top of page
11.png
Cemetery Story Akt II.png

Urheberrecht ©Jen Thorn & CCK Schildmaid

Alle Rechte vorbehalten.

Wir gestatten nicht, dass Unsere Arbeit ohne Unsere Zustimmung in irgendeiner Weise verwendet oder bearbeitet wird.

Unerlaubtes Kopieren und Verbreiten des Textes oder Teilen davon für eigene Publikationen wird strafrechtlich verfolgt.

11.png

Kapitel 1

Liam ließ sich seufzend auf die gemütliche Sitzbank auf der Dachterrasse fallen, während Freya frisch geduscht aus dem Apartment trat. 
»Was für eine verfickte Nacht«, säuselte sie, schnappte sich das Glas, welches Liam randvoll mit Whiskey gefüllt hatte, und setzte sich neben ihn.
»Verfickte Nacht ist gar kein Ausdruck. Wir müssen Schildmaid unbedingt unter Kontrolle bekommen«, erwiderte ihr Bruder und rieb sich müde übers Gesicht.
Freya nahm einen großen Schluck und spürte der brennenden Flüssigkeit nach. Das wärmende Gefühl in ihrem Magen sorgte dafür, dass sich auch die letzten angespannten Muskeln lockerten und sie noch etwas tiefer in die weichen Polster rutschte.
»Und wenn du davon sprichst, sie unter Kontrolle zu bringen, meinst du: Wir killen sie und werfen sie gemeinsam mit dieser Jen in einen der Krater, die Skádi in den Friedhof gesprengt hat?«
Liam legte den Kopf schief und lächelte. »An sich eine durchaus akzeptable Idee. Nur … würde das auch unser Ende bedeuten.«
Freya drehte das fast leere Glas durch ihre Hände und hob den Blick zum Himmel. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich über den Horizont und färbten das Himmelszelt in schimmernde Rottöne.
»Töten ist also keine Option, dann sollten wir uns aber zumindest von hier verpissen.«
Liam ließ seinen Blick über die weitläufige Terrasse schweifen. Gesäumt von unzähligen Grünpflanzen, einem Whirlpool und hoch über den Dächern der anderen Häuser war es ein ziemlich vollkommener Ort. 
»Eigentlich ist es ganz nett hier.« Er schwenkte sein Glas. »Whiskey haben wir auch und der Kühlschrank ist voll. Lass uns wenigstens einen Tag hier bleiben. Eine Auszeit nehmen.«
Freya hob die Braue. »Unmittelbar neben einem Friedhof, der in Schutt und Asche liegt. Überzogen mit Ghulleichen?«
Ihr Bruder zuckte gelassen mit den Schultern. »Weiß doch keiner, dass wir es waren. Und selbst wenn, ist es Schildmaids Problem und nicht unsers.«
Sie beobachtete ihren Bruder einen Moment aufmerksam und suchte bereits nach Argumenten, dass es eine dämliche Idee war, noch länger hierzubleiben. Aber letztlich hatte er recht. Abgesehen von ein paar Leichen, die ihren Alltag so oder so begleiteten, hatten sie hier nichts auszustehen und konnten die Ruhe genießen.
»Okay. Gewonnen, aber nur so lange, wie der Whiskey reicht und etwas zu essen im Kühlschrank ist und … wir verlassen diese vier Wände nicht. Die Ruhe hier oben genießen? Dabei. Noch einen einzigen Fuß in dieses Kaff setzen? Auf gar keinen Fall!«
Ein breites Grinsen legte sich in das Gesicht ihres Bruders, während er sein Glas sanft gegen ihres stieß. »Auf die Stunden der absoluten Stille.«
---
Sie verbrachten die nächsten Minuten dösend, bis die Sonne hoch am Himmel stand. 
»Ganz schön heiß heute, oder?«, fragte Freya, die sich eine leichte Schweißschicht von der Stirn wich und sich irritiert umsah.
Es war Ende Oktober und definitiv viel zu warm.
Liam blinzelte gegen die Sonne an und brummte verschlafen. »Haben wir sicher Skádi zu verdanken. Das letzte Mal hat das Wetter doch auch tagelang verrückt gespielt.«
»Hm. Möglich«, erwiderte sie, doch langsam stieg Unruhe in ihr auf. Ein kaltes Kribbeln kroch über ihren Nacken. Ihr Magen fühlte sich flau an. Nervös stand sie auf, lief zu dem Rand der Terrasse und sah über das Geländer.
Mit einem tiefen Seufzen riss Liam sich aus seinem benebelten Zustand und richtete seine Aufmerksamkeit zu Freya, deren Blick über die Skyline der Stadt huschte. »Was ist los?«
Sie trippelte mit den Fingern auf dem Geländer und schien nach etwas zu suchen. Als sie ihm nicht antwortete, erhob er sich und trat neben sie. Er ließ seinen Blick ebenfalls schweifen, fand jedoch nichts Auffälliges. Vor ihm lag wohltuende Stille, welche nach der letzten Nacht ein wahrer Segen war.
»Freya, was ist los?«
Diese kniff die Augen zusammen, neigte den Kopf ein wenig zur Seite und verzog die Lippen. »Hörst du das?«
Irritation spiegelte sich in Liams Mine wider. »Nein. Es ist absolut still.«
Freya nickte zustimmend. »Genau das meine ich.«
Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, denn er konnte seiner Schwester mal wieder nicht folgen. »War das nicht der Grund, warum wir hierbleiben?«
»Ja, wegen der Ruhe hier oben«, gab sie augenrollend zurück. »Aber warum zur Hölle ist es da unten so still? Es ist Mittag. Und es gibt kein Geräusch in diesem verdammten Kaff. Nicht einen Menschen auf der Straße.«
Liam rieb sich übers Gesicht, schloss dabei die Augen für einen Moment und konzentrierte sich dann auf seine Umgebung. Doch Freya hatte recht. Vor ihren Füßen lag eine verdammte Geisterstadt. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und legte sich wie ein dunkler Schatten über die Zwillinge.
»Noraja und Antry?«, flüsterte er leise.
Freya drehte sich und blickte ihn tief in die eisblauen Iriden. »Ich weiß es nicht, aber eine ganze Stadt auslöschen? Ich meine, ja möglich, aber es fühlt sich nicht danach an, oder?«
Liam schüttelte den Kopf. »Wir sollten verschwinden. Jetzt!«
Diesmal musste er seine Schwester nicht überzeugen, doch kaum, dass die beiden die Terrasse verlassen hatten, klopfte es an der Zimmertür.

11.png

Kapitel 2

Ein Ruf, gefolgt von einem dumpfen Knall, riss Dean unsanft aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf. Sein Körper war schwer wie Blei und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sein rechtes Lid sich mühsam hob. Ein warmes, braunes Auge wanderte zum Fußende des Bettes.
»Was zum Teufel machst du da, Sam?«, knurrte er verschlafen. Seine Stimme klang rau, als hätte er einen Frosch verschluckt. Samantha warf ihm einen säuerlichen Blick zu, der klar und deutlich »Stell dich nicht so an« schrie.
»Komm in die Gänge, Prinzessin. Zeit, nach L.A. zurückzukehren.« 
Bevor Dean protestieren konnte, warf sie ein nasses Handtuch auf das Doppelbett, genau dorthin, wo seine Beine unter der Decke verborgen waren. Er zuckte zusammen, das kühle Nass kroch durch die Laken und bohrte sich in seine Haut. Mit einem resignierten Seufzer rollte er sich halb zur Seite und sah, wie Samantha ein Preisschild von einem schwarzen Shirt riss und es anzog. Dean gähnte lang und ausgiebig, als wollte er den gesamten Sauerstoffvorrat des Raumes aufbrauchen, und strich sich dann die zerzausten, halblangen schwarzen Haare aus dem Gesicht. 
»Wie spät ist es überhaupt?«
»Sieben«, antwortete Samantha kühl und bürstete sich die roten Locken.
»Fuck, Sam«, murmelte er, die Müdigkeit ließ ihn lallen, als hätte er eine Flasche Whisky intus. »Wir sind doch erst vor drei Stunden ins Bett gekommen.« 
Mit einem Ruck flog die Bettdecke in die Luft, als hätte sie sich selbstständig gemacht, und enthüllte Dean – schlank, muskulös und tätowiert. Nur mit Boxershorts bekleidet lag er da, als wolle er den Tag in genau dieser Pose verbringen.
»Was soll das? Normalerweise bin ich derjenige, der dich vor Sonnenaufgang aus dem Bett schmeißt«, murmelte er mit halb geschlossenen Augen.
Samantha stemmte die Hände in die Hüfte. »Bekomm endlich deinen Arsch hoch, Dean! Oder muss ich dich gleich mitsamt Matratze hier rausschleifen?«
Er schnaubte verärgert und setzte sich auf. »Sonst verbringe ich auch nicht die halbe Nacht damit, Ghule zu jagen, nur um dann stundenlang ihre Überreste aus meinen Haaren und meiner Haut zu schrubben.« Er entdeckte die Einkaufstüten neben der Tür. »Hast du wenigstens Frühstück mitgebracht?«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, die Funken der Empörung sprühten förmlich aus ihnen. Dean hob beschwichtigend die Hände, als würde er gleich vom Blitz getroffen. »Schon gut, schon gut«, brummte er resigniert und ließ seine Füße schwer auf den Boden klatschen, als er aufstand.
»Sei froh, dass ich dir überhaupt etwas zum Anziehen besorgt habe«, fauchte sie, während sie mit einer Tüte wedelte, die seine Kleidung enthielt. »Ich hätte dich auch nackt durch dieses gottverlassene Kaff rennen lassen können.«
Er schlurfte in Richtung Badezimmer, seine Schritte von einer Mischung aus Müdigkeit und gespieltem Desinteresse geprägt. »Oh, das hättest du. Aber seien wir ehrlich, Sam – die Blicke der Frauen, die sich verzweifelt nach diesem Körper verzehren, hättest du keine fünf Minuten ertragen.«
Sie verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. »Diese Blicke kosten nur Zeit. Ich will hier einfach weg. Du kannst später in L.A. nackt durch die Straßen joggen, wenn es dir Spaß macht.«
Dean schüttelte den Kopf, während er die Dusche aufdrehte und einen prüfenden Blick in den Spiegel warf. »Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses.«
»Ich schwöre dir, Dean, wenn du noch länger brauchst, errege ich persönlich öffentliches Ärgernis«, zischte Samantha und öffnete mit einem genervten Augenrollen die Rollläden. Das metallische Klappern hallte durch das Hotelzimmer und durchdrang die Stille des frühen Morgens. Draußen lag die Stadt in schlaftrunkener Ruhe, die Straßen leblos, nur das entfernte Summen einer Stromleitung erinnerte daran, dass die Welt noch existierte. 
Irgendetwas an dieser Ruhe störte sie jedoch.
Seufzend schlüpfte sie in ihre Sneaker – das einzige Paar, das sie auf die Schnelle um sechs Uhr früh in diesem winzigen Hotelshop auftreiben konnte. Die schmutzigweißen Sohlen quietschten leise auf dem Boden. Die Schuhe waren so weit von schick entfernt, dass es beinahe ironisch war, sie überhaupt als Schuhe zu bezeichnen. Aber immerhin nicht barfuß. Sie warf einen Blick auf die Plastiktüten, die hastig zusammengeworfenen Kleidungsstücke für sie und Dean. Praktisch, funktional. Ihre eigenen Sachen waren zerfetzt und stanken nach Tod – eine Mischung aus Verwesung und nasser Erde. 
Dean trottete aus dem Badezimmer, immer noch mit diesem verdammten Handtuch um die Hüfte, als wäre das hier ein Wellnessurlaub. 
»Beeilung ist scheinbar nicht dein Ding, was?«, fragte sie, die Augenbrauen spöttisch hochgezogen, während er die Kleidung aus der Tüte zog. Sein Blick wanderte über das schlichte graue Shirt und die schwarzen Hosen. Er zuckte mit den Schultern – seine universelle Antwort auf jegliche Art von Unannehmlichkeit – und verschwand wieder ins Badezimmer.
                                                                       ---
Nur wenige Minuten später verließen die beiden Freunde das Hotelzimmer. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall hinter ihnen ins Schloss und die stille Leere des Hotelflurs umfing sie. Die Beleuchtung flackerte wie in einem schlechten Horrorfilm, während sie nebeneinander hergingen.
»Ein Kaffee ist aber drin, oder?«, erkundigte sich Dean und brach die Stille, während er mit einem Blick auf seine Armbanduhr die Zeit prüfte, als wäre es von Bedeutung. Seine Augenringe waren so tief, dass man meinen könnte, er hätte schon seit Wochen keinen Schlaf mehr bekommen.
»Unten ist ein Automat«, erwiderte Samantha knapp und rümpfte die Nase. Es roch nach Reinigungsmitteln, vermischt mit einem leichten Hauch von ... irgendetwas anderem. 
Etwas Unangenehmem.
»Was?« Dean runzelte die Stirn und schielte sie misstrauisch an.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts, ich hab den Geruch von letzter Nacht wohl noch in der Nase.« Sie machte eine kurze Pause. »Für einen Moment dachte ich, ich hätte Blut gerochen.« Ihre Stimme war ruhig, aber ihre Augen verrieten eine Unruhe, die Dean nicht entging.
»Super, genau das, was ich nach all dem hier hören wollte«, murmelte er und verdrehte die Augen.
Als sie die Lobby erreichten, wurde es schlagartig noch unheimlicher. 
Samantha blieb abrupt stehen und Dean folgte ihrem Beispiel, seine Aufmerksamkeit jetzt voll auf ihr. »Sam?«, fragte er leise, seine Stirn legte sich in besorgte Falten, als er ihren starren Blick bemerkte.
Samantha stand da, wie versteinert, ihre Augen glitten durch die Lobby, als ob sie jedes Detail einsaugen wollte, jedes Anzeichen von Leben – doch da war keines. 
Kein Rezeptionist, keine Gäste, keine leise dudelnde Musik, die vorher noch im Hintergrund gespielt hatte. Die Tür zur Straße stand sperrangelweit offen, als hätte jemand in Panik den Ort fluchtartig verlassen.
»Irgendwas stimmt hier nicht, Dean«, sagte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Hand glitt wie von selbst zu ihrer Waffe, doch das Gewicht rief ihr schnell die letzte Nacht wieder in Erinnerung. 
Leer. Sie hatte alle Kugeln in die Ghule gepumpt. 
»Fuck.« Es war nicht einmal ein Fluch, mehr eine Feststellung. Bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie als Nächstes tun sollten, durchbrach ein ohrenbetäubendes Poltern die unnatürliche Stille. Es kam aus dem Frühstücksraum. 
Ihre Blicke trafen sich – Deans Augen rollten langsam in einer Mischung aus Frust und Resignation. »Scheiß Kaff«, murmelte er mit bitterem Unterton, als ob der Ort selbst ihn herausfordern würde. Er nickte in Richtung des Lärms, beugte sich leicht zu ihr rüber und flüsterte: »Behalte die Tür im Auge. Ich seh nach, ob ich irgendwo eine Waffe auftreiben kann.«
Samanthas grüne Augen waren fest auf den Frühstücksraum gerichtet, aus dem immer noch lautes Poltern drang. Und ... war das ein Knurren? Großartig. Als ob die Nacht nicht schon beschissen genug gewesen wäre. 
Ihre Finger kribbelten, das Adrenalin setzte ein. Sollte tatsächlich einer dieser verrotteten Ghule überlebt haben und ihnen bis hierher gefolgt sein? 
Sie biss die Zähne zusammen. Sie hätten sofort nach dem Desaster in der Krypta abhauen sollen. Aber nein, Dean hatte natürlich einen auf »Wir müssen uns ausruhen« gemacht. Duschen, schlafen, all das unnötige Zeug, das ihre Situation nicht im Geringsten verbesserte. Als ob man den Gestank der Toten so einfach abwaschen könnte.
Eine Bewegung hinter ihr riss sie aus den Gedanken. 
»Wähle deine Waffe«, verkündete Dean. In seiner Hand hielt er ... einen Regenschirm und eine Papierschere. 
Samantha drehte sich langsam zu ihm um und fixierte ihn mit einem Blick, der schon so manchen dazu gebracht hatte, freiwillig rückwärts zu gehen. »Ist das dein Ernst?«
Dean hob unschuldig die Schultern. »Am Tresen liegt noch ein Brieföffner, falls dir das mehr zusagt.«
Sie verdrehte die Augen und griff nach dem Rucksack, der letzte Nacht noch ein Arsenal an Granaten und Ersatzmagazinen enthalten hatte. Jetzt? Deans leere Pistolen, ein paar Verbände, Wasserflaschen und der Dolch, den Iskaii ihr vor der Krypta gegeben hatte. 
»Du hast einen Dolch?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Kopfschüttelnd schob er die Schere in seine Hosentasche. »Dann, Ladys first.« Mit einer übertriebenen Verbeugung deutete er auf die Tür, den Regenschirm wie einen Speer vor sich haltend.
Samantha seufzte, ließ den Rucksack auf den Boden der Lobby fallen und nickte. »Natürlich. Warum auch nicht.« Sie hatten weitaus Schlimmeres überlebt, aber das bedeutete nicht, dass es nicht noch idiotischer werden konnte. 
Gemeinsam schlichen sie sich an die Geräusche heran.
Je näher sie dem Frühstücksraum kamen, desto lauter und bedrohlicher wurde das Knurren. Aber es war anders, anders als das kratzende, heisere Geräusch der Ghule. Es war tiefer, animalischer. Ein fast schon kehliges Grollen. 
»Ein tollwütiger Streuner?«, flüsterte Samantha mehr zu sich selbst als zu Dean. Die Hand fest um den Griff des Dolchs geschlossen, hielt sie vor dem Eingang inne. 
»Streuner? Eher ein verdammt wilder Köter auf Steroiden«, raunte der Cop und sie wechselten einen flüchtigen Blick. Kein weiteres Wort war nötig. Stattdessen atmeten sie tief durch und zählten stumm bis drei.
Beim Eintreten schlug ihnen sofort der metallische Geruch von Blut entgegen – schwer, stickig, durchtränkt von etwas Verderbtem, das sie fast zum Würgen brachte. Für einen Moment blieb ihnen der Atem weg. Das Bild, das sich ihnen bot, hätte direkt aus einem Horrorfilm stammen können, einem besonders schlechten.
Da war er. Ein Mann – oder das, was einmal einer gewesen sein könnte – sprang wie ein tollwütiger Affe über Tische und Stühle, seine Bewegungen schnell und abgehackt, wie die eines Raubtieres, das eine Beute gewittert hatte. Er krabbelte auf allen vieren, sein ehemals eleganter, schwarzer Anzug hing in Fetzen an ihm herab, als hätte er einen Kampf mit einer Horde wilder Tiere verloren – oder vielleicht gewonnen. Schwer zu sagen. Das Blut, das ihn bedeckte, war wie eine zweite Haut, klebte an ihm wie getrockneter Lack, der sich in den Rissen und Falten seines zerschlissenen Stoffes und seiner Haut festgesetzt hatte.
Seine Augen waren weit aufgerissen, blutunterlaufen, als wären alle Adern darin gleichzeitig geplatzt. Es sah aus, als hätte man die letzten Reste von Menschlichkeit aus ihm herausgebrannt, zurückgeblieben war nur ein tobendes Tier. An den Rändern seiner Augen klebten dicke Krusten von getrocknetem Blut, das sich auch unter seiner Nase und in seinen Ohren sammelte.
Aber das Schlimmste, das wirklich Grauenhafte, war nicht sein Zustand. Es war das, was er zwischen seinen Zähnen hielt. Ein abgerissener Arm hing grotesk aus seinem blutigen Mund, wie das Kauspielzeug eines Hundes. Seine Zähne hatten sich tief in die tätowierte Handfläche des Arms gegraben, die Finger zuckten noch leicht, als wäre da noch ein letzter Funke Leben.
Blut spritzte bei jedem Biss aus der Wunde und hinterließ klebrige, rote Schlieren auf den Tischen, den Stühlen, den Wänden – eigentlich überall. Die Überreste des einstigen Ladenbesitzers lagen wie groteske Puzzleteile im Raum verteilt, als hätte jemand ein besonders grausames Spiel gespielt und vergessen, es zu beenden.
»Heilige Scheiße«, zischte Dean durch zusammengebissene Zähne, als die groteske Szene vor ihnen ein unsanftes Ende fand. Der Mann – oder das, was von ihm übrig war – wandte sich zu ihnen um, als hätte er nur auf diese Einladung gewartet. Sein Blick war leer, aber hungrig, und das Knurren, das sich aus seiner Kehle erhob, hätte selbst einem ausgehungerten Raubtier alle Ehre gemacht. Aus seinem sabbernden Mund hing der Arm wie ein groteskes Accessoire, das er einfach vergessen hatte loszulassen. 
Und dann sprang er. Er schoss auf sie zu, wie eine Hyäne auf Speed, die nach Wochen in der Wüste endlich Futter witterte.
»Verdammte Scheiße!« Dean hob instinktiv seinen Regenschirm und schlug so hart zu, dass der Kerl mit einem dumpfen Klonk am Boden landete. Doch der Typ rappelte sich auf, als wäre er aus Gummi gemacht, keinerlei Schmerz, nur dieser irre Blick. Auf allen vieren, wie ein tollwütiger Hund, kam er erneut auf sie zu und Dean konnte gerade noch die Spitze seines Schirms in dessen Brust rammen.
Der Mann heulte auf, ein lang gezogenes, unmenschliches Geräusch, das Dean durch Mark und Bein fuhr. Und dann erhob er sich wieder. 
»Ach komm schon!« Dean fuchtelte verzweifelt mit dem Schirm herum, während Samantha einen halben Schritt zurückwich, den Dolch in der Hand, bereit, ihn zu benutzen.
Der nächste Angriff ließ nicht lange auf sich warten, und Dean griff hektisch nach dem nächstbesten Stuhl. Ein schneller Schlag und der Mann prallte zurück, unbeeindruckt, als wäre er gegen eine schwingende Tür gelaufen. Während Dean verzweifelt versuchte, seinen Gegner mit einem Möbelstück in Schach zu halten, sprang Samantha vor und rammte den Dolch in seinen Rücken.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Aber der Kerl war wie eine verdammte Kakerlake – unzerstörbar. Er stemmte sich gegen den Stuhl, seine Arme wie Schraubstöcke, die niemals die Kraft verloren. Deans Arme brannten, seine Knie zitterten, doch dann kam ihm eine Idee  – er gab dem Stuhl einen kräftigen Hieb, beförderte sowohl das Möbelstück als auch den Mann ein paar Meter von sich weg. In einer schnellen Bewegung zog er die Schere aus seiner Hosentasche. Dann zielte er und schmetterte die Spitze direkt in die Schläfe des Mannes.
Ein kurzes Zucken, ein hässliches Röcheln, und dann – endlich – blieb der Körper reglos liegen.
»Was für eine verfluchte Scheiße ist das jetzt wieder?«, knurrte Dean. »Ernsthaft, wie viele Freaks haben die in diesem Kaff versteckt?«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, zerbarst mit einem markerschütternden Krachen eine der großen Glasscheiben in der Lobby. 
»Freya und Liam«, flüsterte Samantha, ihre Stimme fast verloren im wachsenden Getöse. 
Dean runzelte die Stirn. 
»Letzte Nacht klang es so, als würden sie noch auf eine Flasche Whisky bleiben, bevor sie zurückkehren«, fügte sie hinzu, ihre Augen suchten unruhig den Raum ab. »Wir müssen zu ihnen.«
»Ja, und wie immer rennen wir mitten in den Wahnsinn, statt einfach abzuhauen, wie normale Leute«, murrte Dean und fragte: »Meinst du, dass ihre schräge Freundin Skàdi dahintersteckt?«
Samantha zuckte die Schultern, während sie auf die Tür zur Küche zuging. »Ausschließen werde ich nichts.«
Wieder ein Krachen. Diesmal noch lauter. Samantha packte Dean grob am Ärmel seines Shirts und zerrte ihn in Richtung Küche. »Komm schon, wir nehmen den Hinterausgang.«
Dean ließ sich widerwillig mitschleifen. »Weißt du, wäre nett, wenn wir das Drama einfach jemand anderem überlassen könnten.«
»Seit wann lässt du dir eine Gelegenheit entgehen, deinen Heldenkomplex auszuleben?«
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Touché.«

11.png

Kapitel 3

»Es klopft«, stellte Liam erschrocken fest.
Freya trat neben ihn und sah ihn fassungslos an. »Wirklich? Wäre ich gar nicht draufgekommen.«
Er ignorierte ihren ironischen Tonfall oder war nach den vergangenen Stunden noch nicht in der Lage, diesen überhaupt zu begreifen. »Das heißt, da steht jemand vor der Tür.«
Bei den Göttern: Jetzt waren offensichtlich seine letzten Sicherungen durchgebrannt. Seine Schwester ließ seine weltbrechende Schlussfolgerung unkommentiert und wandte sich ab, während das dumpfe Klopfen erneut den Raum beschallte. Ein leichtes Vibrieren erschütterte das Türblatt und ließ auch Liam einen Schritt zurückweichen.
»Was machst du?«, fragte er, als Freya im Bad verschwand und kurz danach durch das Wohnzimmer huschte. Sie kramte schnell die wenigen Klamotten zusammen und ergriff zum Schluss ihre zwei Klingen.
»Verschwinden. Sofort!«
Liam runzelte die Stirn und zeigte zu der Tür, hinter der plötzlich verdächtige Ruhe herrschte. »Sollten wir nicht nachsehen, wer da was von uns will?«
»Hast du jemandem gesagt, wo wir sind?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann halte ich das für eine schlechte Idee«, erwiderte Freya, trat auf ihn zu und packte seinen Arm. »Wir gehen.«
Und kaum, dass Freya die Worte ausgesprochen hatte, riss es die Tür aus den Angeln. Der Geruch von verbranntem Fleisch, gemischt mit dem Hauch süßlicher Fäule, brach herein und ließ die Zwillinge für einen Moment erstarren. Blutige Finger, deren Haut zerfetzt war und freie Sicht auf gelbliche Knochen gewährte, umklammerten den Türrahmen. Ein dumpfes Grollen, so tief, dass es unter die Haut der Shields kroch, kündigte mehr als Unheil an.
»Fuck«, knurrte Liam. »Haben die uns verfolgt?«
Hektisch sah er sich suchend um, auf der Suche nach einer Waffe, fand aber nichts außer weiche Kissen und eine Fernbedienung. Für einen Moment fragte er sich, ob das Plastikgehäuse wohl einen Schädel durchbrechen könnte. Doch Freya zerrte ihn augenblicklich zurück zur Terrassentür.
»Das ist kein Ghul«, schnaufte sie und im gleichen Moment trat eine Frau über das zerbrochene Türblatt. 
Die Reste ihrer Uniform zeigten, dass sie einst zum Team des Hotels gehörte. Ihrem Zustand zufolge musste das aber Jahrzehnte zurückliegen. Ihr Fleisch schälte sich von ihren Knochen, hing in losen Fetzen an ihr herunter. Ihre Augen waren leere Höhlen, verdeckt von verfilzten, schwarzen Haarsträhnen. Ihre Bewegungen waren abgehakt und wirkten schwerfällig. Gleichzeitig gefährlich und sicher. Schwarzes Blut tropfte aus ihrem offenen Mund. Gurgelnde Geräusche drangen aus ihrer Kehle und gaben auch Liam den letzten Tritt, um endlich seine Starre zu verlassen.
»Was für eine Scheiße ist das?«, fragte er, während er seiner Schwester quer über die Terrasse folgte.
»Keine Ahnung, aber es ist definitiv nicht mehr menschlich.«
Freya schob sich auf die Mauer der Terrasse und wankte kurz.
»Sollten wir es nicht einfach töten und dann durch das Gebäude flüchten«, fragte Liam hoffnungsvoll, denn der Blick in die Tiefe, welche sich um sie herum offenbarte, schien keine brauchbare Option.
»Klar, weil wir dank der vielen Horrorfilme gelernt haben, dass das immer die beste Idee ist. Wollen wir uns vielleicht direkt noch trennen und dumm: Hallo in die Dunkelheit rufen?«
Liam sah über seine Schulter. Das tote Fleisch schleppte sich durch den Raum, besudelte den Boden mit schwarzem Sekret und röchelte immer lauter.
»Überzeugt.«
Freya suchte die Umgebung ab und erspähte einen Balkon unmittelbar unter ihnen.
»Da«, raunte sie und rannte, ohne zu zögern, los.
Ein gezielter Sprung und sie stürzten wenige Meter in den Abgrund, landeten auf der letzten Ecke der Betonplattform und zögerten. Schreie ertönten und ein Blick durch die breite Glasfront der Terrasse ließ ihre Mägen flau werden.
Blutverschmierte Wände, verstreute Fleischfetzen und zuckende Leiber.
»In was für eine Scheiße sind wir jetzt schon wieder geraten?«, wisperte Freya leise.
»Ich hasse Schildmaid und Jen. Dafür werden sie bezahlen, aber erst mal …«, Liam sah sich um und entdeckte den nächsten Balkonvorsprung. »Wir müssen weiter. Los.«
Freya löste sich von dem morbiden, abscheuerweckenden Bild und angelte sich gemeinsam mit ihrem Bruder über die Brüstungen nach unten, bis sie endlich festen Boden unter den Füßen hatten.
Die Straße lag in völliger Einsamkeit. Kein Laut war zu hören. Doch auch kein Lebewesen zu erblicken.
»Wohin?«, fragte Liam und blickte sich wachsam um.
»Wir brauchen Waffen und müssen aus der Stadt raus.«
»Sind wir uns einig, dass diese erdrückende Stille nichts Gutes bedeuten kann?«
Freya zog ihre Klingen aus der Halterung und reichte eine davon Liam.
»Sind wir.« Doch ehe sie sich in Bewegung setzen konnte, hielt er sie auf.
»Was ist mit Samantha und Dean. Sie wollten auch eine Nacht hier verbringen.«
Mit rollenden Augen drehte sie sich zu ihrem Bruder. »Jetzt kommt deine soziale Ader durch? Sie werden das schon machen. Sind ja nachweislich keine Schwächlinge.«
»Aber haben wir zusammen nicht bessere Chancen? Denk an die Filme«, raunte er und wagte es sich dabei auch noch, dämlich zu grinsen.
Freya verfluchte sich schon, bevor die nächsten Worte über ihre Lippen kamen. »Gut. Erst die Waffen, dann die beiden, und sobald wir sie gefunden haben, verpissen wir uns hier.«

11.png

Kapitel 4

»Das kann doch nur ein verdammter Scheiß Scherz sein!«, fluchte Dean lauthals, als er mit aller Kraft einen schweren Terrakotta-Blumenkübel über den halb verwesten Schädel einer der Kreaturen donnerte. 
Das Ding war weder Mensch noch Ghul, sondern irgendetwas dazwischen, ein verrottender Albtraum aus moderndem Fleisch und unnatürlicher Lebenskraft. Der Aufprall war dumpf, das widerliche Knacken von Knochen und das Aufplatzen von fauligem Gewebe hallte durch die Stille. Fleischfetzen flogen, ein Auge löste sich aus seiner Höhle und baumelte grotesk am Sehnerv, während das Wesen taumelte und ein kehliges, gurgelndes Geräusch von sich gab.
»Verdammt, das ist widerlich!«, knurrte Dean angewidert und wich mit einem schnellen Satz einem Hieb aus, den die Kreatur blindlings in seine Richtung schwang. Mit einem gezielten Tritt gegen die Beine des Wesens brachte er es zu Fall. Ein widerliches, feuchtes Geräusch erklang, als der verrottete Körper auf dem Boden aufschlug. Ohne zu zögern, packte Dean den nächstbesten Blumentopf aus dem Vorgarten des Hauses und schleuderte ihn mit voller Wucht auf den Schädel des Wesens. Der Topf zersplitterte und das Geräusch des zerschmetterten Schädels war kaum weniger verstörend als das dumpfe Klatschen von matschigem Fleisch auf Stein. 
»Was hältst du von weniger reden und mehr rennen?«, rief Samantha ihm zu, während sie mit einer geschmeidigen Bewegung einem weiteren Wesen auswich, das auf sie zugestürmt war. Mit einem schnellen, präzisen Stoß ihres geliehenen Dolches bohrte sie die Klinge tief in den Hals der Kreatur. Schwarzes, dickflüssiges Blut spritzte hervor und das Ding brach vor ihren Füßen zusammen.
Dean warf einen Blick über seine Schulter und zog eine Augenbraue hoch. »Ach, auf einmal willst du laufen?«, schnaufte er, während er einen weiteren herannahenden Gegner mit einem gezielten Ellbogenstoß zurückdrängte. »Wenn ich dich zum Laufen auffordere, bekomme ich höchstens deinen Mittelfinger zu sehen! Und jetzt, wo diese abgefuckten ... Was-auch-immer durch die Straßen humpeln, bist du plötzlich motiviert? Ganz toll.«
»Beweg deinen verdammten Arsch, Dean! Jetzt!«, schimpfte Samantha, ihre Stimme scharf und voller Dringlichkeit. »Wa–« Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er sich umdrehte. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, während er die schaurige Horde untoter Toter bemerkte, die taumelnd auf sie zukam. Ihre verfaulten, gräulichen Körper bewegten sich unaufhaltsam, ihre Augen leer und gierig. 
»Verdammt, Sam ...« Deans Stimme war nur ein Flüstern, rau und voller Anspannung. »Wir brauchen Waffen. Ich hab echt die Nase voll davon, ständig improvisieren zu müssen.« 
»Liebend gerne, aber leider sind wir nicht in den USA. Hier findest du nicht in jedem verdammten Haushalt ein Waffenarsenal, das die Army erbleichen lässt.« Samanthas Stimme war bitter, der Humor darin so trocken wie Staub.
Deans Blick fiel auf eine Deko-Fackel. Mit einem knurrenden Laut riss er sie aus dem Boden, seine Finger fest um den glatten Metallgriff. Der erste Untote, eine groteske Kreatur, deren Körper aussah, als wäre er von einem Lastwagen mehrfach überrollt worden, wankte näher, der Kiefer hing schief, faulige Zähne blitzten im Licht des Herbsttages. Mit einem kräftigen Schwung rammte er das spitze Ende der Fackel mit aller Kraft in den matschigen Schädel des Untoten. Ein widerliches, nasses Geräusch begleitete den Aufprall, als der Schädel nachgab und die Fackel tief in das verfaulte Fleisch eindrang. Der Untote zuckte kurz, sein Körper erschlaffte. Dean riss die Waffe mit einem Schmatzen wieder heraus, das faulige Gehirn wie matschiger Brei am Metall haftend.
»Komm schon, du Bastard ...«, murmelte er, während er sich bereit machte, auf den nächsten Angreifer zuzugehen. Doch bevor er einen weiteren Schlag führen konnte, hallten plötzlich Schüsse durch die Luft. Der laute Knall ließ Deans Herz kurz aussetzen und vor seinen Augen zuckte der nächste Untote, getroffen von mehreren Kugeln, zusammen und fiel schwer zu Boden. 
Dann der nächste, und noch einer.
»Was zum Teufel?« Die Augen des Polizisten weiteten sich, als er auf einer Steinmauer einen Mann entdeckte, etwa in seinem Alter, der mit einem Maschinengewehr im Anschlag dastand, gehüllt in zerrissene Jeans und einem zerfledderten Shirt, über dem er eine abgetragene Lederjacke trug. Sein Grinsen war fast schon zu selbstgefällig für die Hölle, in der sie sich befanden, als er lässig von der Mauer sprang.
»Ich wollte schon immer mal mit so einem Teil um mich ballern.« Er schulterte das Gewehr und trat auf Dean und Samantha zu, als wäre das hier der normalste Tag seines Lebens.
»Scheiße, Connor, was machst du hier? Bist du lebensmüde?« Samantha konnte den Ärger in ihrer Stimme kaum verbergen, als sie ihren Schützling fixierte. Connor stand mit lässiger Haltung vor ihr, völlig fehl am Platz in diesem Albtraum. Sein Gesicht zeigte nichts als Nonchalance, als wäre er gerade in einem Café an der Strandpromenade.
»An manchen Tagen habe ich gewisse Neigungen«, antwortete er beiläufig, zuckte mit den Schultern und ignorierte den grollenden Blick, den Dean ihm zuwarf. 
Deans dunkle Augen verengten sich, als er den Rockstar musterte, als wollte er herausfinden, ob hinter dieser scharfen Zunge und dem entspannten Auftreten tatsächlich irgendein Funken Verstand steckte. »Sam, möchtest du mir vielleicht mal erklären, was mit deinem Schützling nicht stimmt?«
Samantha schnaubte leise und ihre Antwort kam trocken, als sei diese Erklärung eine altbekannte Litanei. »Die Liste wäre unendlich und ganz sicher beliebig erweiterbar«, sagte sie, ehe sie sich wieder Connor zuwandte, der noch immer so tat, als wäre das hier alles ein schlechter Scherz. »Du solltest in einem verfluchten Tonstudio sitzen und Songs aufnehmen«, warf sie ihm vor, wobei sie versuchte, ihre Fassung zu bewahren, doch ihre Stimme verriet den Zorn und die Sorge, die tief in ihr brodelten.
Connor zuckte erneut mit den Schultern, als wäre das alles nichts, als hätte er das schon unzählige Male gehört. »Und euch den ganzen Spaß hier alleine überlassen, Reed? Nope.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, das jedoch nicht in seinen Augen ankam. »Außerdem«, fügte er hinzu, »hättest du heute Dienst gehabt und bist nicht aufgetaucht. Eigentlich bin ich hier, um dich zu feuern.«
»Ja, klar«, knurrte Dean und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich reise auch immer von L.A. in irgendein Kaff in einem anderen Land, bewaffnet mit einem Maschinengewehr, nur um meine Bodyguard zu entlassen. Macht Sinn.« Die Spannung in seiner Stimme wurde schärfer, als er seinen Blick wieder auf Connor richtete. »Woher hat dein Schützling doch gleich diesen Dachschaden, Sam?«
Connor lachte trocken auf, bevor Samantha antworten konnte, als ob die Frage ihn persönlich amüsierte. »Zu viel Bockmist in meiner Jugend«, übernahm er, bevor er bedeutungsschwer auf die Waffe in seiner Hand deutete. »Die Knarre hier gehört mir nicht. Ich hab sie einem nicht ganz so toten Cop abgenommen, der mir den Zutritt zur Polizeistation verwehrt hat. Wusste ja nicht, was mich hier für eine Scheiße erwartet. Sonst hätte ich vorher noch einen Waffenladen leer geräumt.«
»Polizeistation?« Samanthas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch ihre Augen funkelten vor Anspannung. »Wo?« Ihr Atem ging schneller. »Und warum kommst du dann nur mit einer einzigen Waffe zurück?« Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören, und Dean bemerkte, wie sich ihre Schultern leicht spannten. 
Connor zog ungerührt eine Packung Zigaretten aus der Innentasche seiner Lederjacke. Seine Bewegungen waren träge, fast lässig, als hätte der Tod um ihn herum keine Bedeutung. Samantha konnte den schwachen Geruch von Leder und kaltem Rauch riechen, als er eine Zigarette zwischen seine Lippen klemmte. Das Klicken des Feuerzeugs durchbrach für einen Moment die Stille und eine kleine Flamme spiegelte sich in seinen scharfen blaugrünen Augen. Er inhalierte tief, die orange Glut leuchtete für einen Sekundenbruchteil heller auf. Dann, als hätte er sie beinahe vergessen, antwortete er endlich, während der Rauch langsam entwich.
»In der Station wimmelte es nur so von diesen Viechern.« Seine Stimme war rau und schien das Gewicht der letzten Stunden zu tragen. »Der Neandertaler meinte, er schafft das alleine, also hab’ ich mich auf die Suche nach dir gemacht.« Seine Augen wanderten zu Dean. »Ich wusste ja nicht, dass du nicht alleine bist.«
Dean schnaubte, ließ sich aber nicht auf das Spiel ein. »Welcher Neandertaler?« 
Iskaii? Er war alles andere als berechenbar, aber wieso sollte er noch in diesem Kaff sein?
»Komischer Typ«, Connor zuckte beiläufig mit den Schultern, als ob es keine Rolle spielte, ob sie über einen möglichen Verbündeten oder Feind sprachen. »Ziemlich finster. Hat kaum ein Wort gesagt. Er hatte eine Frau dabei, die ...« Er hielt kurz inne, als hätte er Schwierigkeiten, die passenden Worte zu finden. »Nun, die war auch nicht ganz richtig im Kopf.«
Samanthas Augenbrauen zogen sich zusammen. »Dandelia und Iskaii? Trugen sie altertümliche Kleidung? Schwerter?«
Connor kratzte sich nachdenklich am Kinn und kratze über seinen kurzen, gepflegten Bart. »Der Kerl ja, sah aus, als wäre er aus einem verdammten Geschichtsbuch entsprungen. Sie nicht. Sie ...« Er schüttelte den Kopf, als könnte er selbst kaum glauben, was er gesehen hatte. »Sie sah aus, als hätte sie sich gerade von der Couch erhoben und wäre in dieses Chaos geschlittert.«
»Antry und Noraja«, murmelte Samantha und biss sich nachdenklich auf die Lippe. Sie sah zu Dean und nickte entschlossen. »Wir müssen sie finden. Und die Waffen in dieser Polizeistation.«
Connor nahm einen letzten, tiefen Zug von seiner Zigarette, als würde er die letzten Sekunden des Friedens in sich aufsaugen. Mit einer beiläufigen Bewegung ließ er die Kippe zu Boden fallen. Der Rauch kringelte sich im Licht, bevor er verschwand.
»Zu ihm«, korrigierte er grimmig. »Sie haben sich getrennt. Keine Ahnung, wo sie hin ist. Hat etwas von Frena und Liam gefaselt.«
»Freya«, verbesserte Samantha ihn scharf. Ohne zu zögern, legte sie eine Hand auf Connors Schulter und schob ihn in die Richtung, aus der er gekommen war. »Bring uns zu dieser Polizeistation«, drängte sie, ihre Stimme leise, aber eindringlich. »Und zwar schnell.«

11.png

Kapitel 5

Freya rümpfte angewidert die Nase, während sie über zerfetzte Leichenteile stieg.
»Widerlich«, knurrte sie leise und folgte ihrem Bruder durch eine Gasse, die nur von gedämpftem Licht erhellt wurde. Der Tag neigte sich unweigerlich dem Ende zu und abgesehen von unzähligen Halbtoten – ganz tot, konnten sie eindeutig nicht sein, denn sie versuchten, die Zwillinge nachweislich zu fressen – war ihnen niemand begegnet. Ebenso wenig hatten sie in irgendeiner Form Waffen auftreiben können.
»Wie ist es möglich, dass wir mit Waffen handeln und jetzt völlig armselig mit nichts als zwei Messern ausgestattet sind?«, fragte Liam in die Stille vor sich.
»Konnte ja keiner ahnen, dass Schildmaid uns in den Vorhof der Hölle wirft.«
»Vorhof?«, fragte ihr Bruder und zog entrüstet die Braue nach oben, »wir stecken mittendrin.«
Wo er recht hatte ... doch da sie an dieser Tatsache gerade wenig ändern konnten, wanderte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die zerstückelten Leichenteile. Es stand außer Frage, dass es sich dabei um ehemalige – nennen wir sie Zombies – handelte. Das Fleisch war verfault, überzogen mit schwarz verkrusteter Flüssigkeit. Die wenigen Köpfe, die sie fanden, zeigten nichts als verzogene Fratzen. Offene Schädeldecken mit verdorrter Hirnmasse und Verletzungen, die offensichtlich nicht mit ihrem endgültigen Tod in Verbindung standen.
»Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass Noraja noch irgendwo in der Nähe ist.« Freya schluckte und kämpfte schlagartig gegen die aufsteigende Galle in ihrer Kehle an, als ihr Fuß in etwas Weichem versank. Dünndarm – eindeutig. »So eine Scheiße würden Sam und ihr mürrischer Freund nicht anrichten. Und da heißt es immer, wir sind der Wahnsinn in Person. Dabei sind wir eindeutig die Normalsten.«
Liam nickte, hielt einen Finger in die Luft und deutete Freya damit an, zu warten. Sie waren am Ende der Gasse angekommen und er schob sich langsam um die Hausecke. Er musterte jeden Winkel der Hauptstraße und hielt Ausschau nach der nächsten Untotengefahr. Doch abgesehen von noch mehr Fleischfetzen, die hier sogar wie Girlanden von den Ampeln hingen, war nichts zu finden.
»Eindeutig Noraja und wir müssen dringend mit ihr sprechen, wenn sie weiterhin mit uns im selben Wohnzimmer sitzen will.«
Freya widerstrebte dieser Gedanke nach den vergangenen Stunden. Bis jetzt kam sie mit der Irren gut klar, doch langsam fragte sie sich, ob ein abgelegener Ort ohne Mitbewohner nicht die bessere Wahl war.
»Los weiter«, forderte Freya, schob sich an ihrem Bruder vorbei und rannte mit leisem Schritt über die Straße.
Ein Fehler, denn kaum hatte sie die Hälfte hinter sich gebracht, ertönte ein markerschütternder Schrei. Oder war es ein Jaulen? Im Augenwinkel sah sie einen schwarzen Schatten, der auf sie zu schoss. Ehe sie reagieren konnte, wurde sie von den Füßen gerissen. Fauliger Atem schlug ihr entgegen. Heißer Geifer tropfte ihr ins Gesicht, während gleißender Schmerz durch ihre Brust fuhr. Ein tiefes, aus der Hölle stammendes Knurren ließ ihre Knochen vibrieren. Geistesgegenwärtig hatte Freya ihre Hände vor sich gestreckt und war im borstigen Fell versunken, welches gegen ihren Abwehrversuch ankämpfte.
»Fuck«, hörte sie Liam brüllen. Doch das Vieh über ihr schien diesen nicht zu beachten.
Sie drehte ihren Kopf zur Seite und versuchte, den Schmerz in ihrer Brust zu ignorieren. Ihr Angreifer beutelte sie und langsam verlor sie die Kraft in ihren Händen.
»Was ist das?«, keuchte sie, unfähig etwas zu erkennen, außer dunkles Fell.
»Das glaubst du mir nie«, erwiderte Liam.
»LIAM!!! TÖTE ES!«, grollte Freya. Ihre Finger versteiften sich bereits und würden gleich einfach den Kampf ums Überleben aufgeben.
»LASS LOS!«, schrie Liam plötzlich und sie gehorchte.
Sie zwang ihre steifen Finger auf und im nächsten Moment wurde das Monster von ihr gerissen. Im Augenwinkel sah sie, wie ihr Bruder und ein Berg aus Fell und Hörner über die Straße rollten. Schnell zwang sie sich auf die Beine und starrte fassungslos auf das Gebilde.
Ein verfickter Hirsch? 
Liam schaffte es, sich abzurollen, aufzuspringen, und sprintete sofort zurück zu Freya.
»Geht es dir gut?« Er zeigte auf ihren zerfetzten Hoodie.
Sie rieb sich darüber, spürte das Brennen und nickte.
»Kratzer«, sagte sie und sah dabei auf das Untier, welches sich ebenfalls wieder aufgerichtet hatte.
Sein Fleisch war ebenso verfault wie bei den restlichen Zombies. Seine Hörner waren gespickt mit Gedärmen. Ein Teil seiner Hinterläufe fehlte, doch das schien ihn nicht zu interessieren. Mit gesenktem Kopf hielt er auf die Zwillinge zu und kratzte dabei mit seinen gesplitterten Hufen über den Asphalt.
»Was auch immer hier los ist. Es scheint alles zu wandeln. Selbst Tiere«, erklärte Liam das Offensichtliche. Freya sparte sich eine Erwiderung und rannte los. Liam folgte, der tote Hirsch ebenso und er war dabei verdammt schnell. Zu schnell. Sein Schnaufen trieb sie durch die Straßen. Es dauerte nicht lange und sein widerlicher Atem streifte ihren Nacken. Sein Geweih streifte bereits ihre Rücken.
Panisch suchte Freya nach einer Lösung, schoss dabei über eine mehrspurige Kreuzung und plötzlich tauchten Scheinwerfer auf. Ein dumpfer Aufschlag folgte und ein Kreischen hallte durch die Stadt. Das Knirschen des sich verschiebenden Metalls war zu hören und schlagartig herrschte Stille.
Liam hatte Freya zu Boden gerissen und lag über ihr, wie ein Schutzschild aus pulsierendem Fleisch. Beide sahen sich an, bevor sie zurück zur Kreuzung blickten.
Eine Dunstwolke stieg aus der verborgenen Motorhaube eines schwarzen Vans. Fellfetzen klebten in dem gebrochenen Grill. Ein Stück abgerissenes Geweih steckte in der Stoßstange.
Langsam ging die Fahrertür auf und eine in schwarze Kleidung gehüllte Gestalt ließ sich herausfallen.
,,Was für eine verfickte Scheiße.«
Die dunkle Stimme schickte Freya ein Kribbeln durch den Leib. Erlösung, Hoffnung und so viel mehr prasselte auf sie ein.
Liam und Freya halfen sich auf die Beine und sahen zu den angefahrenen Hirschen. Er zuckte, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben. Und so eilten sie um den Wagen, an dem ein wankender Stan stand und sich die Hand auf die Platzwunde an seiner Stirn presste.
Seine blassblaue Pupille fixierte sofort Freya und suchte sie nach Verletzungen ab.
»Alles gut bei euch?«, fragte er leise.
»Auslegungssache«, erwiderte Liam knapp, doch seine hängenden Schultern zeigten, dass auch er froh über Stans Auftauchen war.
Freya nickte, schob sich an Stan vorbei und angelte nach einer Packung Taschentücher. Sie riss sie aus der Packung und reichte sie weiter an Stan.
»Was machst du hier?«
Er rieb sich das Blut von der Stirn und sah sie fragend an. »Ich bin dein verfickter Schatten. Und wenn deine Höllenbrut nicht ebenfalls in der Scheiße gesteckt hätte, wäre ich schon eher zu euch gestoßen.«
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Freya und diesmal schwang Panik in ihrer Stimme.
»Bestens«, knurrte Stan.
Mehr brauchte es nicht, um sie zu beruhigen. Er log nicht. Nie. 
Also zurück zu dem eigentlichen Problem. Sie sah zu dem Hirsch. Tot. 
Liam behielt die Umgebung im Blick.
»Sag mir, dass du Waffen dabei hast.«
»Mehr als genug«, erwiderte Stan, ließ die blutgetränkten Taschentücher fallen und riss die Seitentür auf. Vier schwarze Reisetaschen ließen die Herzen der Zwillinge automatisch höherschlagen.
Freya zögerte nicht, zerrte sie zu sich und bewaffnete sich mit allem, was sie tragen konnte. Stan beäugte sie kritisch. »Wollt ihr mir erklären, was hier los ist? Was habe ich da gerade zu Brei gefahren?«
»Wir sind uns nicht sicher. Sieht nach Zombieapokalypse aus.«
Stan knurrte, bewaffnete sich selbst und schulterte dann eine der Taschen. »Wie viel Scheiße haben diese beiden Autoren eigentlich im Hirn?«
»Welches Hirn?«, spottete Freya und nahm eine weitere Tasche.
»Lasst uns endlich aus diesem Kaff verschwinden. Scheiß auf die andern«, sagte Liam, während er seine Pistole entsicherte.
»Die soziale Ader hat aber nicht lange angehalten«, kam ein Seitenhieb von Freya.
»Das war, bevor ein verfickter Hirsch dich fressen wollte.«
Stan wischte sich erneut die Blutspur aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Die Stadt verlassen hilft nichts. In den Umliegenden sah es ähnlich aus, nur dass dort bereits alle tot sind.«
Freya runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. Er zuckte mit den Schultern.
»Könnte mit dem schwarzen Schatten am Himmel zusammenhängen. Er umkreist das Gebiet und scheint dafür zu sorgen, dass, was auch immer es ist, sich nicht weiter ausbreitet.«
Noraja, dachten alle, doch keiner sprach es aus.
»Die Frage ist, wie lange diese Strategie funktioniert.«
Liam und Freya sahen sich an.
»Dieses Kaff scheint die Quelle zu sein«, sagte Freya.
»Und wo kann man etwas besser beenden als an seinem Ursprung«, ergänzte Liam resignierend. Er hatte längst begriffen, dass er keine Wahl mehr hatte. Sie würden bleiben und kämpfen – zumindest hatten sie jetzt wenigstens Waffen. Er schulterte die letzte Tasche und trat aus dem Schatten des Wagens. Der dampfte zwar nicht mehr, aber war definitiv auch nicht mehr fahrbereit.
»Wir müssen Sam finden«, offenbarte Freya und lief los.
»Sam?«, fragte Stan, dessen dunkle Iride fast schwarz wirkte, während die blassblaue des anderen Auges im gedämpften Licht funkelte.
Freya sah über die Schulter und grinste breit. »Sie wird dir gefallen oder … du willst sie töten.«
Ein dunkles Lachen vibrierte durch seinen Brustkorb. »Sie ist also wie du?«
Freya erhob den Mittelfinger. »Niemand ist wie ich, aber … Es gibt vielleicht ein paar gewisse Ähnlichkeiten.«

11.png

Kapitel 6

»What the fuck?!«, brach es aus Connor heraus, als sie durch die Tore in den Innenhof der Polizeistation und weiter in den Eingangsbereich gingen. Seine Schritte stockten, als er die Szenerie vor sich in ihrer ganzen grotesken Pracht auf sich wirken ließ. »Was zum Teufel ist hier passiert?«
Leichenteile lagen verstreut wie absurde Dekorationen, Arme und Beine endeten in unnatürlichen Winkeln in Pfützen aus Blut und Eingeweiden. Hautfetzen hingen wie Girlanden von den Überresten umgekippter Tische. Irgendwo im Hintergrund summte eine verirrte Fliege, die den Anblick offenbar weniger verstörend fand als Connor.
»Jesus ...«, murmelte er, als der beißende Geruch von Kupfer, Verwesung und – war das ... Fell? – durch seine Nase kroch. »Hier riecht es schlimmer als in einem verdammten Schlachthof. Das erinnert mich eher an das, was passiert, wenn ein Schlachter einen richtig miesen Tag hat.«
»Du sagtest, Antry wäre zurückgeblieben«, bemerkte Dean, während er über einen grotesk verdrehten Torso hinweg stieg.
»Ja, hab ich. Und er sah dabei nicht so ...« Connor gestikulierte hilflos in die Richtung dessen, was einmal ein menschliches Gesicht gewesen war, jetzt jedoch mehr an eine verwüstete Pizzasoße erinnerte. »… so aus.«
»Das ist ganz sicher nicht sein Überrest. Aber es sieht so aus, als hätte sich Antry entschieden, ein bisschen umzuräumen.« Dean beugte sich leicht nach vorn, um einen Blick auf die Reste eines Computers zu werfen, dessen Bildschirm blutig gesplittert in der Ecke lag. »Ziemlich ... effektiv, würde ich sagen.«
»Effektiv?«, Connor schnaubte und wich einem Klumpen – was auch immer das einmal gewesen war – aus, das unter seinen Schuhen schmatzte. »Das ist nicht effektiv. Das ist ein verdammtes ...« Er stockte, suchte nach Worten. »… Massaker! Und das soll ein Mann alleine veranstaltet haben? Holy Shit!« Die graublauen Augen des Rockstars starrten auf die Wand vor ihm, die aussah, als hätte ein besonders ehrgeiziger Metzger beschlossen, sich als Künstler zu versuchen. Blut, Sekret, Haare – und, wenn man genau hinsah, etwas, das verdächtig nach Zähnen aussah – bildeten ein abstraktes, groteskes Kunstwerk.
»Ich bin mir nicht so sicher, ob ich Antry als einfachen Mann bezeichnen würde«, antwortete Samantha. Sie stieg über die Überreste eines zerfetzten Torsos, während sie die Ohren spitzte. Stille. »Ich kann überhaupt keine Geräusche ausmachen. Kein Rascheln, keine Schritte. Nichts. Wahrscheinlich ist er gar nicht mehr hier.«
Dean warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Unmöglich, wir haben keine zwanzig Minuten gebraucht, um hierher zu kommen. Niemand – wirklich niemand – kann in dieser Zeit eine ganze Polizeistation zerlegen, samt …« Er beugte sich über ein Stück Fell, das an einem zerschmetterten Stuhl hing, runzelte die Stirn und fügte leise hinzu, »… Hunden? Oder so etwas? Gekillt und so zugerichtet. Ohne Granaten, Sturmgewehr oder Panzer.«
»Ungewöhnlich, ja«, meinte Samantha und trat vorsichtig über etwas, das mal ein Gesicht gewesen sein könnte. »Aber wie ich Jen und CCK kennengelernt habe, ist das noch lange nicht das Unmöglichste, was wir heute sehen werden.«
»Was genau hat Thorn eigentlich quer sitzen? Welchem kranken Hirn entspringt eine solche Scheiße?«, fragte Connor, während er mit der Spitze seines verdreckten Stiefels einen eingeschlagenen Schädel zur Seite schob.
»Jen und Schildmaid mögen uns gerufen haben, und das unleidliche Aufeinandertreffen mit den Ghulen schreibe ich zu einem gewissen Punkt auch ihnen zu«, klang eine männliche Stimme aus einem Nebenraum. Ohne Eile betrat deren Besitzer das Zimmer, als hätte er alle Zeit der Welt. »Doch was auch immer die Verwandlungen dort draußen verursacht hat, hängt mit der explodierten Krypta zusammen. Skàdi hat etwas freigesetzt.«
Samantha wirbelte herum. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Krieger erkannte, der wie ein dunkler Schatten durch die Tür getreten war. »Iskaii!« Ihre Stimme klang fast ungläubig. »Ich dachte, du wärst längst zurück in deiner Neandertaler-Höhle, um nie wieder einen Fuß in diese Welt zu setzen!«
Iskaii, der ohnehin selten von Emotionen überwältigt wurde, hob lediglich eine Braue. »Der Plan hatte durchaus seinen Reiz«, gestand er mit einem leichten, fast unmerklichen Nicken, »doch etwas hat mich zurückgehalten. Ein Gefühl, dass der Kampf in dieser Welt noch nicht beendet ist.« Er trat näher, sein Blick bohrte sich in den von Samantha. »Und das Wissen, dass es auf unsere Welten übergreift, wenn wir es nicht stoppen.«
Connor zündete sich mit einer theatralischen Geste eine Zigarette an. Der Rauch kräuselte sich um sein Gesicht, als er trocken anmerkte: »Und wer genau hat diesen spooky Pessimisten zur Party eingeladen?«
Samantha schoss ihm einen vernichtenden Blick zu, so messerscharf, dass man hätte glauben können, sie würde ihn allein mit ihrer Mimik erdolchen. Doch sie sparte sich eine Erwiderung und wandte sich wieder an Iskaii.
»Was genau hat Skàdi freigesetzt?«
»Nichts Freundliches, das kann ich Euch versichern. Aber was es genau ist, werden wir nur erfahren, wenn wir uns der Quelle nähern.« Die Worte klangen so beiläufig, als ob Iskaii von einem kleinen Spaziergang durch den Park sprach. 
Dean hingegen wusste es besser. Er spürte die kalte Anspannung, die wie eine unsichtbare Hand an seinem Rücken kratzte. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten und er starrte ihn an, als ob er hoffte, dass er doch noch eine bessere Idee hätte – eine, die nicht zwangsläufig mit ihrer sicheren Verdammnis endete.
»Du sprichst dabei jetzt hoffentlich nicht von diesem verfluchten Friedhof und seiner Krypta, die in tausend Einzelteile verstreut ist.« Warum, zum Teufel, war er nicht einfach auf seinem Sofa geblieben?
»Kann mich irgendwer aufklären, was hier für ein Bullshit läuft? Welcher Friedhof? Welche Krypta?« Connor lehnte sich gegen einen Schreibtisch, der unter seinem Gewicht ein klägliches Knarzen von sich gab. »Und warum zum Teufel kam ich auf die Idee, nüchtern hierher zu kommen?«
»Ich sagte dir, du hättest in deinem Tonstudio bleiben sollen. Von all den dämlichen Ideen, die du in deinem Leben zusammengebastelt hast, war das hier mit Abstand die dämlichste.« Samanthas Stimme brach wie eine Flutwelle aus ihr heraus, voller Zorn und dieser ganz speziellen Mischung aus Frustration und Müdigkeit, die nur die tiefsten Abgründe der Verzweiflung hervorbrachten. Dann schloss sie für einen Moment die Augen. Ein tiefer Atemzug, um den anrollenden Sturm der Erinnerungen zu bändigen. Doch die Fetzen der letzten Nacht ließen sich nicht vertreiben. Sie kamen zurück. Ungefragt und gnadenlos.
»Verdammte Scheiße.« Das Flüstern, das mehr einem erschütterten Stöhnen glich, wurde plötzlich lauter, als hätte sie eben erst realisiert, wo sie war. Ihre Augen wurden groß, fast schon hysterisch. »Verdammte Scheiße!«
Jeder im Raum starrte sie an.
»Die Experimente.« Samanthas Stimme klang gedämpft, als hätte sie die Worte nur für sich selbst bestimmt, doch jeder hörte sie. 
Ein Ausdruck des Unverständnisses breitete sich auf den Gesichtern der anderen aus. 
»In der Krypta ...« Sie fuchtelte hektisch mit den Armen, als ob sie versuchen würde, die richtigen Worte aus der Luft zu fischen. »Da war ein Raum. Eine Art ... Folterkammer oder sowas. Und diese Leichenteile, die wir in dem Grab gefunden haben ... Irgendwer hat mit den Ghulen oder Menschen oder ... verdammt, was auch immer ... experimentiert.«
Dean trat einen Schritt näher, sein Gesicht verfinsterte sich. »Ja, irgendein Psychopath. Sieh dir doch den Mist hier an, Sam.« Er machte eine großzügige, fast schon übertriebene Handbewegung in Richtung des Schlachtfelds, das mehr an einen blutgetränkten Albtraum erinnerte als an alles, was ein Mensch jemals verursacht haben könnte. »Das hat kein Mensch ausgelöst, der einfach nur Körperteile abschneidet und sie für seine abgefuckten Versuche zusammenflickt.«
Samanthas Herz begann schneller zu schlagen, ein nagendes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. »Und was, wenn er mehr gemacht hat, als ihnen nur Teile abzuschneiden?« Sie machte eine Pause, suchte nach einem Blick, der nicht so verdammt stur war wie Deans. »Wir waren nicht überall in dieser Krypta, Dean. Sie war riesig. Vollgestopft mit diesen ... Menschenfressern. Wer weiß, was da unten noch alles vor sich ging?«
»Whoa, slow down, Reed! Du gibst mir gerade richtig eklige Resident Evil-Vibes, okay? Nicht cool.« Er zog die Zigarette aus dem Mund und schnippte sie zu Boden. Der Stummel landete direkt in der leeren Augenhöhle eines Körpers – oder dessen Überresten. Der Typ war vielleicht mal ein Polizist gewesen, schwer zu sagen bei dem ganzen zerfetzten Fleisch und den zerstreuten Hautfetzen.
»Okay«, lenkte Dean ein. »Angenommen, du hast recht und irgendein durchgeknallter Wissenschaftler hat in seinem Hobbykeller mit Chemikalien, Organismen oder sonst irgendeinem teuflischen Mist herumgespielt. Dann hat Skàdi diesen toxischen Cocktail beim Krypta-Feuerwerk entfesselt. Wie zum Teufel sollen wir das jetzt wieder geradebiegen? Scheiße, Sam, ich bin Cop! Ein ganz normaler, Kaffeetrinkender, Fingerabdrucksuchender, Serienmörderfestnehmender Cop. Kein Jäger aus irgendeiner gottverdammten Fantasy-Serie!«
»Ich verstehe kaum ein Wort von dem, was ihr sagtet«, mischte sich Iskaii ein. »Doch was auch immer es bedeutet, ich bin mir sicher, die Quelle und die Lösung liegen auf dem Friedhof.«
Ohne eine weitere Erklärung setzte sich der Krieger in Bewegung, als wäre das ganze Gerede reine Zeitverschwendung.
Samantha sprang vor, um ihn am Arm zurückzuhalten. »Warte mal! Du magst vielleicht mit deinem Schwert da draußen auskommen, aber wir werden nicht ohne ein Arsenal von Waffen an diesen verfluchten Ort zurückkehren.«
»Eilt euch«, knurrte Iskaii, sein Blick lag kurz auf der Hand, die auf seinen Arm lag, als wäre er genervt. Erneut wollte er den Raum verlassen, doch diesmal hielt ihn Connor zurück.
»Yo, warte mal! Wo ist eigentlich dieser Typ, der vorhin noch hier war? Antry, oder wie der heißt?«
Sofort wich die Ungeduld einem Moment der Stille. Auch Dean und Samantha hielten inne. Bisher hatten sie geglaubt, Connor hätte die beiden Krieger lediglich verwechselt.
Iskaii runzelte die Stirn, als hätte man ihn gerade an einen unangenehmen Fakt erinnert. »Antry hat sich auf die Suche nach Schildmaids Schöpfungen gemacht. Dandelia ist bei ihm.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie wenig ihm diese Tatsache gefiel. »Sie glauben, dass wir jede Hilfe benötigen, um diesen Kampf zu überstehen.«

11.png

Kapitel 7

Freya saß im Schneidersitz auf dem höchsten Punkt des Klettergerüstes. Ihr Sturmgewehr ruhte auf ihrem Schoß. Ihr Kopf lehnte entspannt an dem Holzpfosten, welcher die zerschossen Holzplanken zusammenhielt. Ihr Blick war in den Himmel geheftet, der langsam von der einbrechenden Dämmerung verfärbt wurde.
»Und wie weiter?«, fragte Stan, bevor die kleine Flamme seines Feuerzeugs das Zwielicht zwischen ihm und Liam erhellte.
Der Geruch von Rauch stieg langsam in die Höhe und kitzelte in Freyas Nase. »Als Erstes will ich auch eine.«
Stan erhob sich von dem schmalen Holzsteg, der unterhalb des Turms lag, auf welchem Freya Position bezogen hatte. Er erreichte ihr die brennende Kippe in die Höhe. Freya lehnte sich, ohne aufzustehen, nach vorn und nahm sie entgegen.
»Und weiter?«, fragte ihr Bruder, der die Beine über den Steg baumeln ließ, seine Waffe immer noch in die Ferne gerichtet.
Freya nahm einen tiefen Zug und lauschte dem Klicken von Stans Feuerzeug. Sie lehnte sich zurück und ließ ihren Blick über die Umgebung schweifen. Sie hatten den Spielplatz vor knapp einer Stunde entdeckt und entschieden, die sie verfolgenden Zombies mit einem Schlag zu erledigen. Nun stapelte sich das verfaulende Fleisch in unzähligen Hügeln um das hölzerne Klettergerüst. Der Gestank von Fäulnis und Blut hatte sich in jeder Faser ihrer Klamotten gefressen und Freya war sich sicher, dass sie diesen widerlichen Geruch für den Rest ihres Lebens tief in ihren Schleimhäuten wahrnehmen würde.
»Keine Ahnung. Wir haben die halbe Stadt abgesucht. Abgesehen von der absoluten Sicherheit, dass wir die einzigen nicht sabbernden Geschöpfe hier sind, hat es nichts gebracht.«
Stan lehnte sich mit dem Rücken an das Türmchen, hob den Blick zum Himmel und ließ den Rauch langsam aus seiner Lunge steigen. »Rückzug ist immer noch keine Option? Vielleicht sind … wie hießen sie gleich noch mal?«
»Dean und Sam«, wiederholte Freya sich abermals.
»Genau«, sprach Stan weiter. »Vielleicht haben Sam und Dean sich ebenfalls längst verpisst?!«
Liam strich sich durchs Haar und verzog angewidert das Gesicht, als er auf etwas Weiches traf. Ohne weiter darüber nachzudenken, was es sein könnte, zerrte er es aus seinen Haaren und ließ es achtlos in die Tiefe fallen.
»Nein. Ich denke, Sam ist geblieben. Ihnen müssen ebenfalls diese Halbtoten begegnet sein. Zumal …«, Freya hielt inne.
»Was?«, hakte Stan nach und drehte sich so, dass er sie ansehen konnte.
»Sams letzte Worte auf dem Friedhof.«
Stan runzelte die Stirn, Liam hingegen stand auf und verschränkte die Arme. »Du meinst, dass in der Krypta irgendwas nicht gestimmt hat?«
Freya nickte, als sich plötzlich ein Kribbeln in ihren Nacken legte. Sofort hob sie den Kopf und sah sich um. Die wenigen Laternen, die noch ein seichtes Glimmen von sich gaben, verloren die Kraft in dem aufsteigenden Nebel. Sie spürte ihn, bevor sie ihn erblicken konnte.
»Was?«, fragte Liam, der die Anspannung seiner Schwester sofort spürte.
»Antry«, wisperte sie kaum hörbar.
Liams Kehle zog sich zusammen. Der Krieger hatte auf dem Friedhof schon eine seltsame Wirkung auf ihn gehabt, und dass er eine seltsame Verbindung zu Noraja gefunden hatte, machte es nicht besser.
Stan hingegen drehte sich ahnungslos um die eigene Achse und versuchte etwas in dem immer dichterwerdenden Nebel zu erkennen. Ein heller Schimmer schien sich aus den Schwarten hervorzuheben, bis sich eine zierliche Gestalt zeigte. Er neigte den Kopf und sah fragend zu Freya. »Sieht nicht sehr männlich aus.«
Die rollte genervt die Augen und deutete ihn an, erneut in die Richtung zu blicken. Jetzt kristallisierte sich ein Schatten neben der jungen Frau, der sich nach wenigen Augenblicken als Antry zu erkennen gab.
»Dann habe ich wohl nichts gesagt. Super, sie haben also uns gefunden.«
»Nein, die beiden haben wir nicht gesucht«, erwiderte Freya trocken.
Liam hingegen trat einen Schritt zurück. »Der Typ ist nicht ganz dicht. Hat die ein oder andere Ähnlichkeit mit Noraja.«
»Ich dachte, sie wären längst wieder in ihrer Zeitebene verschwunden«, flüsterte Freya. »Aber … wenn sie noch hier sind… dann erklärt sich auch das Schlachtfeld, welches sich in der ganzen Stadt verteilt.«
»Du meinst, Iskaii ist auch noch am Start?«, fragte ihr Bruder.
Freya nickte. »Ich denke, solange Dandelia hier ist, ist er nicht sonderlich weit entfernt.«
»Und das ist gut?«, fragte Stan etwas ratlos – ihm fehlte eindeutig noch ein Arschvoll Informationen.
»Kann man sehen, wie man will. Antry und Noraja kamen zu gut miteinander aus. Iskaii und Skádi …«, wieder hielt Freya inne, als musste sie nach den richtigen Worten suchen.
Stan rieb sich über den Nacken und zog sich nun auch etwas in die Dunkelheit zurück. Sein blassblaues Auge fixierte die Schatten, die sich entlang der Nebelwand bewegten. »Könntet ihr vielleicht anfangen, in auch für mich verständlichen Zusammenhängen zu sprechen?«
Liam presste seine Lippen aufeinander und ignorierte diese Bitte. »Du glaubst, dass alles mit den beiden zusammenhängt?«
Freya schüttelte den Kopf. »Ich denke, was auch immer hier los ist, wir werden die beiden brauchen, um es zu beenden. Skádis Explosion muss etwas damit zu tun haben. Es kann kein Zufall sein, dass sie erst alles in Schutt und Asche legt, und danach plötzlich Zombies durch die Stadt wandeln.«
»Okay. Sagen wir also, das Ganze ist hier so ein Endzeitszenario und gehen wir so weit, Skádi hat es ausgelöst. Was hat das mit diesem Iskaii zu tun?«
Freya kniff die Augen zusammen, ein mulmiges Gefühl zog sich durch ihren Magen. »Iskaii scheint irgendwie nicht ganz menschlich zu sein und er sieht Skádi mit anderen Augen. Sie hat ihn beschützt, während sie uns tot sehen wollte.«
Stan zog einen tiefen Atemzug ein, hielt die Luft für einige Sekunden darin gefangen und entließ sie erst, als er sich sicher war, nicht die Fassung zu verlieren.
Er hatte keine Ahnung, auf was zur Hölle Freya hinauswollte. Liam vernahm auch seine entstehende Anspannung und seufzte leise.
»Tamo hat sich Skádis Körper bemächtigt, damit sie nicht die gesamte Welt in die Luft jagt. Es hat zwar geklappt, wir brauchen aber wohl nicht darüber zu sprechen, dass sie mehr als angepisst war.«
»Mehr als sonst?«, fragte Stan etwas ungläubig, denn er hatte Skádi noch nie anders als mürrisch und angepisst erlebt.
»Du machst dir kein Bild«, erwiderte Liam trocken und sah dabei zu, wie Antry und Dandelia gänzlich vom Nebel verschlungen wurden.
»Sie wird also den Teufel tun, um wieder zurückzukommen …«, schlussfolgerte Stan, der langsam folgen konnte und nun wieder den Blick zu Freya richtete. »Und du denkst, dass Iskaii eine Möglichkeit sein könnte, sie zurückzuholen.«
»Exakt.«
Ein betretenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, welches durch entferntes Aufschreien durchbrochen wurde. Freya starrte in die Leere. Ihre Gedanken rasten, während Sams letzte Worte auf dem Friedhof immer lauter darin widerhallten. Etwas nagte an ihr, bis sie es schließlich aussprach. »Wir müssen zur Wurzel des Übels.«
Liam verschluckte sich, hustete und, während das reißende Gefühl in seinem Rachen ihm Tränen in die Augen trieb, sah er seine Schwester fassungslos an. »Du willst, dass wir zurück auf den verfickten Friedhof gehen? Du verarschst mich doch.«
Freya wandte sich unter der Brüstung hindurch und ließ sich auf den schmalen Steg zwischen die Männer gleiten.
»Stan und ich werden zum Friedhof gehen. Du kümmerst dich um Plan B. Wenn Skádi und Iskaii nicht die Lösung sind, brauchen wir etwas, was dieses Kaff endgültig von der Landkarte radiert.«
Ihr Bruder sah sie einen kurzen Moment an, doch bevor er die nächste dämliche Frage stellen konnte, zog ein Schatten über ihre Köpfe und auch er verstand ihre Gedankengänge endlich.
»Ich beeil mich«, raunte er, schnappte sich seine Waffe und eine der Taschen voller Munition.
Nachdem Liam in der immer dunkler werdenden Nacht verschwunden war, streckte Freya sich und schulterte ihre Tasche ebenfalls.
»Lass und zum Friedhof gehen und Stan…«, sie warf ihm einen warnenden Blick zu, den dieser mit erhobenen Brauen erwiderte. »Es werden nur Zombies getötet. Jens Schöpfungen lässt du in Ruhe.«
Stan schwieg, folgte ihr unaufgefordert und gemeinsam ließen sie sich ebenfalls von dem dichten Nebel verschlingen. Wissend, dass Stan sich vieles untersagen ließ, aber sicher nicht das töten.

11.png

Kapitel 8

»Ich kapier’s immer noch nicht«, murmelte Connor und zog frustriert an seiner Zigarette. Der Qualm kräuselte sich in der kühlen Nachtluft wie ein lebendes Wesen, während sie durch die leeren Straßen schlichen – alle bis an die Zähne bewaffnet. Alle bis auf Iskaii. Der Krieger lief mit einem finsteren Gesichtsausdruck voraus, nur mit seinem Schwert und dem Dolch bewaffnet, den er von Samantha zurückerhalten hatte.
Connor zählte die verbliebenen Zigaretten in seiner Packung, wobei sein Mundwinkel missmutig zuckte. Zehn. Zehn armselige Zigaretten. Nicht einmal genug, um ihn durch diese beschissene Nacht zu bringen, geschweige denn durch das, was noch kommen mochte.
»Da bist du wohl nicht allein«, knurrte Dean und rieb sich den Nacken, als wolle er die Anspannung abschütteln, die seit seiner Ankunft in diesem gottverlassenen Kaff schwer auf ihm lastete. »Dieses verfluchte Nest … es ist wie die Hölle selbst. Und diese verdammte Skádi hat ihre Tore geöffnet.«
»Und wer ist sie, dass sie diese Macht hat?«, fragte Connor, wobei er den Rauch in die Dunkelheit blies.
»Kein Mensch, so viel ist sicher«, antwortete Samantha mit leiser, fast unheilvoller Stimme. Ihr Blick ruhte auf Iskaiis breitem Rücken, als ob sie ihn mit ihrem Starren zu einer Antwort zwingen könnte. Doch der Mann war so verschlossen wie ein uraltes Schloss, dessen Schlüssel seit Jahrhunderten verloren war. »Aber der Einzige, der zu ahnen scheint, wer oder was sie ist, hüllt sich in Schweigen.«
Iskaii reagierte nicht. Kein Wenden des Kopfes, kein Nicken, keine sichtbare Regung – als hätte er die Worte nicht einmal gehört. Seine Schritte blieben gleichmäßig, und das leise Scharren seiner Stiefel auf dem Bürgersteig wurde zum monotonen Rhythmus, der die Stille erfüllte.
Samantha seufzte. Frustriert war gar kein Ausdruck. Er war wie ein verfluchter Fels – hart und schweigsam.
»Nicht mal ein Mittelfinger. Seine Art, dich zu ignorieren, ist wirklich Weltklasse«, murmelte Connor, ein schiefes Grinsen auf den Lippen. Sein Blick wanderte zu Samantha. »Vielleicht sollte ich ihn anheuern und dich wirklich feuern. Dann muss ich mir keine Vorhaltungen mehr anhören.«
»Du meinst Vorhalte wie: Warum zum Teufel bist du nicht in L.A. geblieben und hältst es für eine tolle Idee, mitten in die Hölle zu fliegen?« Die Rothaarige warf ihm einen scharfen Blick zu, aber ihre Stimme verriet auch einen Anflug von Besorgnis. »Du bist ein verdammter Rockstar, Connor, und kein – was-auch-immer-hier-eher-angebracht-wäre – Killer.«
»Da haben wir wohl etwas gemeinsam, nicht wahr, Reed?« Connor ließ den Rauch elegant aus seiner Nase entweichen und sah sie mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen an. »Vielleicht hatte ich einfach Bock auf was Neues. L.A. kann echt öde sein, weißt du? Ich kenne schon alle Clubs, finsteren Ecken und zwielichtigen Kneipen.«
Dean brummte leise und schüttelte den Kopf. »Daran habe ich keinen Zweifel.« Seine Stimme klang trocken, doch die Kante in seinem Ton war unüberhörbar. »Hab mich schon gefragt, woher du deine Treffsicherheit hast.«
Connor lachte leise, ein raues, amüsiertes Geräusch. »Oh, die? Keine Sorge, die habe ich legal erworben, Officer.«
»Lieutenant«, korrigierte Dean und warf Connor einen durchdringenden Blick zu. 
Connor hob die Hände in gespielter Entschuldigung, die Zigarette zwischen den Fingern baumelnd. »Sorry, Lieutenant.«
Gerade als er zu einer weiteren spitzen Bemerkung ansetzte, erklang ein scharfes, zischendes »Ruhe!«.
Alle drei erstarrten. Iskaii war stehen geblieben und drehte sich leicht um, gerade genug, um sie mit einem Blick zu mustern, der schärfer war als jede Klinge, die er trug. Für einen Moment wagte niemand zu atmen.
Dann vernahmen auch sie das Geräusch – ein leises, kratzendes Schaben, das immer näher zu kommen schien. Connor ließ die Zigarette zu Boden fallen, während Dean die Hand auf seine Waffe legte.
Iskaii hatte das Schwert bereits in der Hand.
Das kratzende Schaben wurde lauter, schärfer – wie Metall auf Stein, begleitet von einem unheimlichen Wimmern, das einem die Haare im Nacken aufstellte. Es kam aus der Dunkelheit vor ihnen, wo die Straßenlaternen längst ihren Dienst versagt hatten.
»Das klingt nicht nach einem freundlichen Empfangskomitee. Und dabei hatte ich mich so auf Fingerfood und Champagner gefreut«, scherzte Connor. 
Samantha schob ihn mit einem finsteren Blick hinter sich und entsicherte ihre Waffe. Das leise Klicken hallte wie ein Hammerschlag durch die angespannte Stille. Deans Augen suchten die Dunkelheit ab, während er die Pistole in Anschlag brachte. Iskaii bewegte sich langsam, das Schwert in der Rechten, den Dolch in der Linken.
Dann kam es. Ein Schatten, groß und verzerrt, schnell wie ein Wirbelwind.
»Deckung!«, brüllte Dean, aber es war bereits zu spät.
Ein massiges Wesen mit klauenartigen Gliedmaßen sprang aus der Finsternis. Es sah aus wie eine groteske Mischung aus Mensch und Tier, seine Haut grau und rissig, die Augen leuchtend rot. Iskaii wich im letzten Moment zur Seite aus, und das Ding krachte mit voller Wucht in eine alte Mauer, die unter seinem Gewicht zusammenbrach.
Samantha reagierte sofort. Ihre Pistole knallte, eine Salve präziser Schüsse traf die Kreatur in die Seite. Es heulte auf, ein unmenschliches Geräusch, das wie zersplitterndes Glas klang.
Connor trat hinter der Leibwächterin hervor, zielte und drückte ab. Der Schuss traf die Kreatur am Oberschenkel. Sie strauchelte, doch statt zusammenzubrechen, schien sie nur noch wütender zu werden.
Iskaii nutzte den Moment. Mit einer Schnelligkeit, die fast unmenschlich wirkte, sprang er nach vorne. Das Schwert sauste herab, und mit einem markerschütternden Geräusch trennte die Klinge einen der Klauenarme ab. Dunkles Blut spritzte in alle Richtungen, ein widerlich fauliger Geruch breitete sich aus. Das Ding schrie, drehte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit und schwang seinen verbliebenen Arm nach Iskaii. Doch der Krieger war schneller. Er ließ sich in einer fließenden Bewegung auf ein Knie fallen und stieß den Dolch mit voller Wucht in den Bauch des Wesens.
»Runter!«, schrie Dean, und Samantha zog Connor zu Boden, als ein zweites Monster aus einer Seitengasse stürmte.
Connor feuerte in die Richtung der Kreatur. Ein Schuss traf das Wesen im Kiefer, der andere mitten ins Herz, doch es rannte weiter, getrieben von unbändiger Wut. Dean zielte ruhig, sein Atem ging gleichmäßig. Ein Schuss direkt zwischen die Augen. Die Kreatur sackte zusammen, ihr massiger Körper schlug auf den Boden und ließ die Erde erbeben.
Samantha sprang auf und feuerte eine weitere Salve auf das erste Monster, das sich noch immer verzweifelt gegen Iskaii wehrte. Kugeln durchlöcherten seine Brust, doch es schien noch immer nicht bereit zu sterben.
»Verdammte Mistviecher!«, schrie sie.
Iskaii brüllte – ein roher, archaischer Laut – und riss das Schwert nach oben. Mit einem finalen, tödlichen Hieb trennte er dem Wesen den Kopf ab. Dunkles Blut spritzte wie ein Geysir in die Luft, und das Monstrum brach wie ein gefällter Baum zusammen.
Für einen Moment herrschte Stille.
Connor richtete sich vorsichtig auf und starrte auf die beiden leblosen Kreaturen. »Was… zur verfickten Hölle… ist das?«, keuchte er, Schweiß perlte von seiner Stirn.
»Egal, was sie waren, sie sind tot«, murmelte Samantha, ihre Pistole noch immer auf eines der Wesen gerichtet, als würde sie erwarten, dass es wieder aufsteht.
Iskaii starrte das tote Wesen zu seinen Füßen an und was er in ihnen erkannte gefiel ihm gar nicht.
»Du weißt, was das für Biester sind, oder?«, fragte Dean, sicherte seine Waffe und steckte sie in das Halfter.
»Sie wirken wie eine Kreuzung aus Démkaorté und Mensch«, knurrte der Krieger, seine Stimme kalt und ohne jede Emotion. Er wischte sein Schwert an einem Fetzen des zerrissenen Leichnams ab und steckte den Dolch zurück in die Scheide an seinem Gürtel.
»Was bitte ist ein Démkaorté?«, wollte Connor wissen und tauschte seine Waffe gegen eine Zigarette.
»Ein Wesen aus meiner Welt.«
»Aber wie zum Teufel sollte sich eine Kreatur aus deiner Welt mit einem Menschen kreuzen und in dieser Welt spazieren?«, wollte Samantha wissen und ihr Blick huschte durch die Schatten, als befürchtete, dass dort jeden Augenblick weitere Wesen auftauchen könnten.
»Ich vermag es nicht zu sagen. Doch womöglich finden wir Antworten auf dem Friedhof.« Iskaii deutete auf die toten Körper. »Das waren gewiss nicht die Letzten. Wir müssen weiter.«
Dean nickte. »Er hat recht. Wenn sie in diese Welt kommen, dann werden noch mehr folgen und ich will gar nicht wissen, was für Viecher noch in dieser abgedrehten Welt leben, aus der unser Freund hier kommt.«
Connor sah ihn an, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und bemerkte dann: »Wenn dieser Trip mir keine Inspiration für ein neues Album liefert, dann weiß ich auch nicht. Monster-Apocalypse wäre doch ein Mega Titel.«
Iskaii warf ihm einen Blick zu, der selbst den sonst so redseligen Rockstar zum Schweigen brachte. »Wenn Ihr weiterleben wollt, solltet Ihr jetzt schweigen. Kommt jetzt, der Friedhof ist nicht mehr weit.«
Ohne ein weiteres Wort setzte der Krieger sich in Bewegung. Samantha, Dean und Connor wechselten einen schnellen Blick, bevor sie sich ebenfalls wieder in Bewegung setzen.

11.png

Kapitel 9

Stan und Freya saßen verborgen in der Baumkrone eines einzelnen Baumes, der mitten in der Stadt thronte. Unmenschliche Schreie und Schüsse zerrissen die Stille der Nacht so plötzlich, dass die beiden ihrem Fluchtinstinkt nachgaben und sich in die Baumkronen retteten.
»Was zur Hölle ist das?«, raunte Stan, der die Umgebung wachsam durch das Blätterwerk beobachtete.
Freya schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber die Schüsse Sagen, dass offensichtlich nicht nur wir an Waffen gekommen sind.«
»Sicher, dass es nicht Liam ist, der da gerade versucht zu überleben?«
Diesmal nickte sie. »Er ist in die andere Richtung aufgebrochen.«
Eine billige Erklärung, aber einfacher als Stan einzuschärfen, dass sie wüsste, es spüren würde, wenn ihr Zwilling in Gefahr wäre.
Sie verharrten, lauschten den Kampfgeräuschen, und erst als diese für mehrere Minuten vollständig verklungen waren, kommunizierten sie stumm und ließen sich langsam aus dem Astwerk gleiten.
»Mir gefällt es nicht, dass wir in die Richtung müssen«, knurrte Stan und schloss die Hände fester um sein Sturmgewehr.
Freya ließ ihren Blick über die dunkle Straße gleiten. Nur jede zweite Laterne gab noch einen seichten Lichtschein von sich, der beinahe vollständig von dem dichten Nebel verschlungen wurde.
»Mir auch nicht, aber der Friedhof liegt hinter oder vielleicht auch in dieser Nebelwand.«
»Warum verpissen wir uns gleich nicht noch mal?«
»Weil sich diese Scheiße hier sonst auf den Rest der Welt ausbreitet und ich keinen Bock habe, jede Früh von beschissenen Zombies geweckt zu werden.«
»Richtig«, murrte Stan und trat neben sie.
Schweigend schlichen sie durch die Nacht. Die Anspannung lag ihnen im Nacken, während die Angst eines neuen Angriffs mit ihren Spitzenklauen über ihre Rückgrate kratzte.
Der Nebel wurde mit jedem Schritt dichter und legte sich als feuchte Spur auf ihren Gesichtern nieder. Die Nachtluft war durchzogen mit dem Geschmack nach Kupfer und der süßlichen Note der Verwesung. 
Angewidert verzog Freya das Gesicht. »Der Geschmack des Todes hat sich wie Säure auf meiner Zunge eingebrannt. Das werden wir nie wieder los.«
Stans Arm schoss vor ihren Torso und zwang sie zum Anhalten.
Sie verkniff sich die Frage nach dem Warum, sondern kniff die Augen zusammen, hob sofort ihre Waffe und suchte die Umgebung ab. Doch was auch immer seine Aufmerksamkeit erregt hatte, blieb ihr verborgen.
»Was ist los?«, fragte sie mit gesenkter, rauer Stimme.
Stan deutete vor sich auf den Boden und erneut starrte sie in die wabernde Dunkelheit vor sich, bis sie erstarrte. Die Umrisse einer Kreatur zeichneten sich darin ab. Reglos, aber allein durch ihre Größe eindrucksvoll und einschüchternd.
»Sieht tot aus«, schlussfolgerte Freya, als sie gemeinsam nähertraten. Ihre schnellen Atemzüge spiegelten ihr Inneres wider. Adrenalin schoss durch ihre Venen und setzte jeden einzelnen Nerv unter Spannung.
Stan schwieg, ließ seinen Blick über die scharfen Krallen und graue Haut schweifen, verlor aber sofort das Interesse daran. Etwas anderes hatte ihn in den Bann gezogen.
Freya lief mit gerunzelter Stirn um die Kreatur, deren schwarzes Blut die Straße verklebte. »Widerlich und definitiv nicht von dieser Welt. Scheinbar hat Skádi nicht nur eine verfickte Zombieapokalypse ausgelöst, sondern auch noch Risse in verschiedene Universen gerissen. Ich weiß nicht, was Schildmaid sich bei ihr gedacht hat. Unfassbar.«
Erneut reagierte Stan nicht und langsam zerrte das an ihren eh schon nicht mehr sonderlich belastbaren Nerven.
»Was zur Hölle ist los?«
Die Worte waren kaum in der Dunkelheit verschwunden, als auch sie es endlich vernahm. Ein leises Klingeln. Ganz sanft. Kaum wahrnehmbar und doch stellten sich augenblicklich ihre Nackenhaare auf. Es gab nur eine Art von Glöckchen, die diese sanfte Melodie hervorbringen konnten. Gremlin-Glocken und es gab nur eine Person, die diese unverhohlen am Körper trug.
»Fuck. Fuck. Fuck. Schildmaid, das ist jetzt nicht dein verfickter Ernst.«
Die Klänge wurden lauter und waren nun deutlich einem Schritttempo zuzuordnen. Sie trat sofort neben Stan, dessen Fingerknöchel bereits weiß angelaufen waren. »Mach jetzt ja nichts Dummes«, wisperte sie, wissend, dass es keinen Sinn machte.
Sie warteten, lauschten in die Dunkelheit. Insgeheim betete Freya dafür, dass sie sich irrte und nicht jeden Moment eine dunkle Gestalt vor ihr auftauchte. Das Klingeln verstummte.
Eins… Stille.
Zwei… Stans Augen irrten durch die Dunkelheit.
Drei… Freya spannte sich an, senkte jedoch ihre Waffe und lauschte dem Nichts.
Vier… Nichts als ihre leisen Atemgeräusche waren zu hören.
Fünf… Ein leises Klingeln hinter ihnen und kaltes Metall drückte sich in Stans Nacken.
»Hallo Grimm.« Stans Brust vibrierte vor unterdrücktem Zorn. »Heute ganz ohne wispernde Märchenzitate unterwegs?«
Stans Worte waren schärfer als jede Klinge, die Freya am Leib trug, und der Hohn, der darin verborgen lag, ließ sie sich zur Seite drehen. Ihr Blick fiel auf die verhüllte Person. Dunkler Stoff spannte sich über definierte Muskeln. Jede Faser davon war bereit, den Tod zu bringen. Der schwarze Umhang umspielte die imposante Gestalt, die Freya um einen Kopf überragte. Den Kopf unter einer Kapuze verbogen. Eine blutrote Maske verdeckte den Großteil seines Gesichts, sodass nur emotionslose, graue Augen zu erkennen waren.
Grimm drückte die Waffe weiter in Stans Nacken. Reagierte nicht auf Freyas brennende Blicke, die sich nunmehr auf das Band an seinem Handgelenk gerichtet hatten. Über den schwarzen Stoff seiner Kleidung hingen sie in blutroter Farbe und gaben kein einziges Geräusch von sich.
Sie nahm einen tiefen Atemzug, rieb sich übers Gesicht, wissend, dass ihr keine Gefahr von ihm drohte. Was Stan betraf …
»Gut, Jungs«, fand sie schließlich ihre Stimme wieder. »Stuhlkreis oder bringt ihr euch diesmal gleich um? Ich frag nur, weil unser Zeitlimit aktuell ziemlich begrenzt ist.«
»Fick dich«, grollte Stan und im selben Moment wandte er sich, ergriff die Waffe und schleuderte sie zur Seite. Seine eigene riss er sich vom Körper und warf diese in Freyas Richtung.
»Umbringen, also«, seufzte diese und während Stan auf Grimm zuschoss, der seinen Angriff mühelos abfing,
Freya plusterte ihre Wangen auf, sah einen Moment dabei zu, wie die beiden sich in einen Kampf verloren, dessen Ausgang niemand vorhersehen konnte, und machte sich daran, die zu Boden geworfenen Waffen einzusammeln. Danach suchte sie sich einen Platz auf dem Bordstein und ließ sich fallen. Die Geräusche von einschlagenden Fäusten hallten durch die Nacht. Worte der Beleidigungen waren verklungen und einem wiederkehrenden Stöhnen gewichen.
Freya legte ihr eigenes Gewehr auf den Schoß und hielt derweilen die Umgebung im Blick. Es würde nicht lange dauern und dieser hübsche Boxkampf vor ihr würde ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und kaum, dass sie diesen Gedanken beendet hatte, ertönten die ersten keuchenden Atemzüge aus der Nebelwand. Augenrollend erhob sie sich, zielte und der erste Zombie, der wohl mal ein Feuerwehrmann gewesen war, fiel zu Boden. Schwarzes Blut sickerte aus dem Loch in seinem Schädel.
Ein Fauchen ertönte und zwei zerfetzte Wesen, Hunden sehr ähnlich, sprangen auf sie zu. Offenes Fleisch hing von ihren Rippen und legte dadurch die weißen Knochen frei. Zwei Schüsse. Ein erbärmliches Jammern. Stille.
Doch nur für wenige Augenblicke. Schatten sprangen aus allen Ecken. Blitzschnell und unaufhaltsam schossen sie auf die Drei zu und endlich ließen Stan und Grimm voneinander ab.
»Freya«, brüllten beide zeitgleich und schon warf diese ihnen ihre Waffen zu.
»Nett, dass ihr euch herablasst, unsere Ärsche zu retten«, zischte sie, und im nächsten Moment prasselte ein Kugelhagel durch die Nacht.
Blut spritzte. Fleisch zersprang unter den Einschlägen und der modrige Geruch des Todes ummantelte sie.
Erst als der letzte Schatten zum Erliegen kam, hielten sie inne. Ihre Waffen weiter in das endlose Nichts erhoben, war Grimm der Erste, der an eine der Gestalten herantrat.
»Sind das Schimpansen?« Seine Stimme war kratzig und ließ Freya wie jedes Mal erschauern.
Sie nickte.
Stan wischte sich sein eigenes Blut aus dem Gesicht und zischte, als er dabei die Wunde an seiner Braue berührte. Seine Haut war aufgeplatzt, Blut quoll daraus hervor. Seine Unterlippe spiegelte dasselbe Bild wider. Grimm hatte eindeutig gute Schläge platziert.
Er hingegen schien unversehrt.
»Was für eine Scheiße ist das hier?«, fragte Grimm, missachtete Stan, der neben ihm stand, und sah direkt zu Freya.
»Wissen wir nicht so genau. Aber…«, sie blickte zu dem mutierten Schimpansen, dann zu der undefinierbaren Kreatur dahinter. »Was auch immer es ist, es mutiert offensichtlich alles.«
Sie rollte ihre Schultern und drehte sich zu Stan und Grimm. Die Anspannung der beiden schlug sofort auf sie nieder. Sie waren längst noch nicht fertig miteinander.
»Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten für euch. Kommt miteinander aus, um hier zu überleben, oder … ich gehe, lass euch zurück und schieße euch dann höchstpersönlich eine Kugel in den Schädel, falls ihr als so was meinen Weg abermals kreuzt.«
Ein Moment der Stille entstand. Grimm verzog sein Gesicht unter der Maske. Der Unmut über diese Wahl war ihm deutlich anzusehen. Stan hingegen presste den Kiefer zusammen und richtete seine Aufmerksamkeit auf Freya.
»Lass uns gehen, bevor uns noch der Rest des verfickten Zoos überrollt.«
Sie nickte, wandte sich ab, und als sie das leise Klingeln der Glocken hinter sich vernahm, wusste sie nicht, ob sie sich freuen sollte oder ob ein lautstarker Schrei angemessen war.
Grimm war auf der Seite des Tötens ein absoluter Zugewinn, nur war bei ihm nie sicher, wen er den Tod als Nächstes brachte. Er hatte keine Freunde. Das Leben hatte ihn dazu gebracht, jeden als seinen persönlichen Feind zu betrachten. Selbst Menschen wie Freya und Stan, die er einst als Familie bezeichnete.

11.png

Kapitel 10

»Das soll ein Friedhof sein?« Connor schob sich ein Stück Mauerputz von der Schulter, nachdem er den Kopf durch die löchrige Einfriedung gesteckt hatte, die kaum noch vorhanden war. Er trat einen halben Schritt zurück und musterte das trostlose Panorama, als müsse er dringend überprüfen, ob er versehentlich in den falschen apokalyptischen Albtraum geraten war.
Hinter der Mauer lag kein geordneter Ruheort, sondern ein groteskes Durcheinander aus entwurzelten Bäumen, zerfetzten Leichentüchern und Schutt, der früher vermutlich mal Gräber, Mausoleen oder irgendetwas Respektvolles gewesen war. Ein trüber Nebel hing in der Luft, als würde der Himmel selbst bereuen, je auf diesen Ort herabgesehen zu haben.
»Gestern war es noch einer«, sagte Samantha mit der stoischen Gelassenheit derer, die so etwas schon ein paar Mal zu oft gesehen hatten. Sie wischte sich den Dreck von den Handflächen, bevor sie elegant über den Rest der Mauer kletterte. Ihre roten Haare wirkten im Dunst wie ein Warnsignal, ein letzter Farbtupfer in der Verwüstung.
Connor sog demonstrativ den letzten Zug seiner Zigarette ein, als wäre Nikotin die einzige Verteidigung gegen die absurde Realität. »Was ist passiert?« Er sprach langsam, weil er insgeheim hoffte, die Antwort würde vielleicht irgendetwas Normalem ähneln.
»Frag lieber: Wer ist passiert«, korrigierte Samantha und hob die Hand, um lauschend die Umgebung abzutasten. Für eine Weile herrschte nur das schmerzlich laute Schweigen des Ortes. Keine Vögel, keine Käfer, nicht einmal der Wind traute sich noch, hier herumzuwehen. »Thorn und Schildmaid.« Sie spuckte die Namen aus, als schmeckten sie nach Asche.
Connor blinzelte, als hätte sie ihm gerade erzählt, der Osterhase habe das alles angerichtet. »Wenn die beiden so ein Übel sind, warum killen wir sie nicht einfach?« Er ließ die Zigarette achtlos fallen. Die Glut flackerte matt auf dem staubigen Boden auf – genauso nutzlos wie ihre aller Chancen, hier lebend wieder rauszukommen.
»Ihr Tod würde unser Tod bedeuten«, brummte Dean hinter ihnen. Er starrte mit schmal zusammengekniffenen Augen durch den Nebel, als glaubte er, darin doch noch ein paar Umrisse zu erkennen, die nicht bloß zerbrochene Grabsteine waren.
Connor stieß ein humorloses Lachen aus.  »Und diese Scheiße hier überleben wir safe?« Er zog eine Braue hoch und schob mit der Schuhspitze ein geborstenes Holzkreuz vom ehemals gepflasterten Weg. Es kippte mit einem Klacken in den Dreck, als hätte es endgültig aufgegeben, irgendjemanden zu erlösen.
»Ich würde keine Wetten darauf abschließen«, knurrte Dean. Er drehte sich um, nur um festzustellen, dass die Gruppe um ein Mitglied geschrumpft war. Seine Stimme wurde einen Ton tiefer. »Wo ist unser mürrischer Freund?«
Samantha und Connor wirbelten herum. Ihre Blicke huschten über den zerfurchten Weg, zurück zur Straße, wo nur noch gespenstischer Nebel waberte. Keine Spur von Iskaii. Keine Fußabdrücke. Kein Geräusch. Nur dieses Gefühl, als lauere die Katastrophe schon wieder einen Atemzug entfernt.
Connor verschränkte die Arme und stieß einen vor Sarkasmus triefenden Seufzer aus. »Ist sein Verschwinden jetzt gut oder schlecht? Nur damit ich weiß, ob ich erleichtert sein oder mir gleich in die Hosen machen soll.«
»Schnauze, Stone!« Dean funkelte ihn an, als würde er ihm am liebsten das Geplapper aus dem Kopf prügeln. Dann wandte er sich mit einer Mischung aus Ärger und Beklommenheit an Samantha. »Suchen wir ihn?«
Sie öffnete den Mund, kam aber nicht dazu, zu antworten.
»Unnötig. Er findet euch, wenn es nötig wird.« Die Stimme kam so unerwartet aus dem Nebel, dass alle drei sich gleichzeitig umdrehten. Metallisches Schaben erklang, als Waffen gezogen und entsichert wurden. Samantha ging in die Hocke, Connor presste den Daumen auf den Abzug und Dean tastete mit dem Blick hektisch das weißgrau ab. Nichts. Kein Schatten, kein Körper, nicht einmal ein Schemen.
»Senkt die Waffen«, kam es mit unverschämter Ruhe. »Ich kämpfe auf eurer Seite.«
Connor verzog den Mund. »Na wunderbar. Ein Nebelgeist mit Allianzen. Genau das, was ich gebraucht habe, um meinen Tag zu retten.«
»Kein Geist«, erwiderte der Nebel. Langsam begann sich darin eine Silhouette zu formen, zuerst nur ein Schemen aus fahlem Grau, dann mehr – Konturen, eine menschliche Gestalt. Sie schritt lautlos auf sie zu, während der Nebel hinter ihr wirbelte wie ein zorniges Gespenst, das keine Lust hatte, den Platz zu räumen.
»Tork Inshir. Ein Verbündeter Iskaiis.«
Das blasse Mondlicht brach durch die aufgerissenen Wolken und glitt über den Mann, der aus den Nebelschwaden trat. Er war hochgewachsen, sicher einen Kopf größer als Dean, trug sein langes blondes Haar in einem akkurat geflochtenen Zopf, als wäre er auf dem Weg zu einem höfischen Maskenball. Helle Stoffe spannten sich über breite Schultern, darüber trug er ein schwarzes Wams, das aussah, als könne es mehr Geschichten erzählen als ein Historiker. An seiner Seite hing ein Breitschwert, das so groß war, dass Connor kurz überlegte, ob der Typ vielleicht Komplexe kompensierte.
Dean ließ seine Pistole sinken – nur ein wenig – und musterte den Neuankömmling mit hochgezogener Augenbraue. »Wie viele von diesen Mittelalter-Fuzzis gibt es eigentlich? Haben die irgendwo ein Nest?«
Tork blinzelte langsam, offenbar unsicher, ob er sich beleidigt fühlen sollte oder ob das bloß eine fremde Landessprache war. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
»Einen hohen IQ haben diese Fantasy-Schwertschwinger offenbar nicht«, bemerkte Connor trocken, während er demonstrativ an seiner Waffe herumspielte, als sei sie interessanter als der Typ mit Zopf.
Tork blieb ungerührt. Ob er die Spitze nicht verstand oder sie einfach ignorierte, ließ sich schwer sagen. Seine Stimme klang unerschütterlich, als er fortfuhr: »Ich bemerkte den Riss in den Welten und gewahrte die Gefahr, die daraus strömt – und in der sich offensichtlich nicht nur Iskaii befindet. Daher entschied ich, hindurchzutreten, um festzustellen, ob meine Hilfe vonnöten ist.«
Samantha seufzte hörbar. »Sehr löblich.« Sie sicherte ihre Waffe und steckte sie weg, als wäre das Kapitel abgeschlossen. »Eine Anleitung, wie wir diesen Riss wieder schließe können, wäre allerdings ungleich hilfreicher.«
»Leider entzieht sich dies meinem Wissen«, erklärte Tork mit bedauerndem Nicken.
Dean starrte ihn an, als hätte er gerade verkündet, er habe statt einer Lösung nur eine Postkarte aus seiner Welt mitgebracht. »Ganz toll. Also suchen wir in diesen Trümmern nach dem Eingang in die Krypta und hoffen, dass da irgendwo ein Notfallplan für Dimensionsrisse rumliegt.«
Er hob die Pistole, um sie endgültig zu sichern, als es plötzlich aus der Dunkelheit knackte. Dann ein Knurren – tief, grollend. Alle erstarrten.
Samantha zog ihre Waffe so schnell, dass es wie ein metallisches Flüstern klang. Tork löste sein Schwert mit einer Ruhe, die fast unheimlich war. 
Connor verzog das Gesicht. »Das klingt nach einem Hund mit Tollwut. Oder einem sehr schlecht gelaunten Waschbären.« Kaum hatte er den Satz beendet, mischten sich neue Geräusche in das Knurren – ein widerliches Kratzen, leises Hecheln und das Knistern von etwas, das sich durch den Schutt schob.
Dean drehte sich im Kreis, das Visier der Waffe zuckte von Schatten zu Schatten. »Das ist nicht bloß einer. Und auch kein Hund.«
Jetzt hörten sie es von allen Seiten – das Raspeln von Krallen, das dumpfe Stampfen von etwas Großem, das keineswegs zahm klang, wie es vielleicht noch in einem Albtraum durchginge.
»Das klingt nach einer ganzen Armee.« Tork ging in Abwehrstellung, das Schwert erhoben.
»Na super«, knurrte Connor, während er das Magazin prüfte. »Einer Armee gegen Vier. Vielleicht hätte ich wirklich im Tonstudio bleiben sollen. Da waren die größten Gefahren höchstens nervige Schlagzeuger.«
»Womöglich vermögen wir zu unterstützen.« Die Stimme kam so unerwartet, dass sie alle zusammenzuckten. Von der zerbrochenen Mauer, halb im Nebel verborgen, löste sich eine Gruppe. Drei Männer, derren Kleidung aussah, als hätte sie vor hundert Jahren bessere Zeiten erlebt – Risse, Dellen, getrocknete Flecken, die verdächtig nach Blut aussahen. Und neben ihnen, halb so breit wie die Mauer selbst, stand eine Kreatur.
Sie war mannshoch, olivgrün, mit Armen wie Baumstämme und einer Brust, die aussah, als würde sie jeden Moment ihre eigene Plattenrüstung sprengen. Ein schwaches Leuchten kroch über die Narben auf ihrer Haut.
»Na großartig«, murmelte Dean, ohne den Blick abzuwenden. »Wir kriegen es nicht nur mit einer Monsterarmee zu tun, sondern gleich noch Verstärkung aus dem Ork-Bodybuilder-Club.«
Connor stöhnte leise. »Perfekt. Alle da? Können wir jetzt bitte anfangen, zu sterben, oder hat noch jemand eine Einladung vergessen?«

11.png

Kapitel 11

Stan, Freya und Grimm liefen schweigend durch die Dunkelheit, umgeben von entfernten Schreien.
»Was genau ist hier passiert?«, fragte Grimm mit gedämpfter Stimme.
Freya warf ihm einen Seitenblick zu und schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen und ehrlich gesagt wissen wir es nicht genau. Aber schieß vorwiegend auf alles, was sich bewegt.«
»Immer wieder schön, in deiner Gesellschaft zu wandeln«, erwiderte er spöttisch und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße vor sich. Nur die Hälfte der Laternen gab noch einen flackernden Lichtschein von sich, der es kaum noch durch den suppenartigen Nebel schaffte.
»Ich denke, es ist eine beschissene Idee, ihn mitzunehmen«, knurrte Stan, dehnte dabei seinen Nacken und warf Grimm einen drohenden Blick zu.
»Ich kann dich hören, Arschloch!«, brummte dieser zurück.
»Gut.« Stan schoss auf Grimm los und trat ihm in die Kniekehle.
Grimm stolperte, fing sich aber sofort wieder und ging auf Stan los. Sie schlugen auf den Asphalt ein und erneut flogen Fäuste.
Freya atmete tief ein, kniff sich in den Nasenrücken und nahm sich einen Herzschlag, um eine Entscheidung zu treffen.
»Nein.« Das Wort hallte ungehört ins Nichts und sie lief weiter, ohne sich nach ihren eigentlichen Begleitern umzusehen. Es war schlimm genug, in dieser Zombiescheiße festzusitzen. Da brauchte sie nicht auch noch neu aufflammende Feindschaften. War ja nicht so, dass diese zwei Idioten besser daran täten, sich zusammenzutun, anstatt sich bis aufs Blut zu bekämpfen.
Mit jedem weiteren Schritt wurden die Kampfgeräusche leiser, bis sie schließlich vollkommen versiegten. Ebenso wie alle anderen Geräusche. Freyas Griff um ihre Waffe wurde fester. Ihre Schritte achtsamer. Aufmerksam betrachtete sie ihre Umgebung. Sie fühlte sich wie unter einer Glasglocke gefangen. Warum war es plötzlich vollkommen still?
Ihr Unterbewusstsein mahnte sie zur Vorsicht und jagte ihr einen Gänsehautschauer nach dem andern übers Rückgrat. Unpassend – wenn man bedachte, dass sie nun vollkommen allein mitten im Nirgendwo stand. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob es nicht einfacher wäre, sich abermals eine Baumkrone zu suchen und die Scheiße einfach auszusitzen. Irgendwann musste doch jedes Lebewesen einfach tot umgefallen sein.
Bevor sich dieser Gedanke jedoch zu einem Vorhaben formen konnte, lichtete sich der Nebel und eine löchrige Mauer tat sich vor ihr auf. Sie war wohl an ihrem Ziel angekommen und schon verstand sie die eiserne Stille um sich. Scheinbar wagten sich nicht einmal die Untoten näher an dieses verfluchte Stück Land.
Widerwillig trat Freya an die Mauer heran und schob sich durch einen Spalt, der gerade groß genug war, um ihr Einlass zu gewähren. Schlagartig verschwand die Stille und wurde von erbarmungslosen Schreien ersetzt. Jammerndes Jaulen übertönte Schüsse und das Brüllen von … Befehlen? Eine weibliche, zornverseuchte Stimme war besonders deutlich zu erkennen. Ein Schmunzeln zuckte über Freyas Lippen. Sam. Zumindest ein Lichtblick, der sich soeben auftat. Sie hatten scheinbar denselben Gedanken.
Freya verschwendete keine weitere Zeit, ließ ihre Waffe verschwinden und zog stattdessen ihre schwarzen Klingen. Scheiß auf Sicherheit. Sie brauchte einen Kampf, der nicht auf Abstand beruhte. Sie wollte das Blut auf ihrer Haut spüren und der Wut in ihrem Inneren endlich ein angemessenes Ventil geben.
Sie sprintete quer über den verwüsteten Friedhof, ignorierte dabei die Äste, die ihr ins Gesicht schlugen und dabei ihre Haut aufrissen. Sie folgte den Geräuschen eines tosenden Kampfes. Die entwurzelten Bäume gaben dem Mond genügend Möglichkeit, um die Umgebung mit seinem kalten Licht zu fluten. Gleichzeitig tanzten tausende Schatten um sie herum und versprachen unendlichen Schrecken.
Ihr Herz schlug gestresst gegen ihre Rippen. Ihre Gedanken beruhigten sich und fanden sich schließlich im Einklang mit dem Verlangen nach dem Tod wieder.
»Hinter dir!«
Ein mit Angst gefüllter Ruf, der nicht ihr galt, doch genau in dem Moment sprang sie auf eine kleine Erhöhung und erfasste das Grauen innerhalb weniger Sekunden. Sie erkannte die rothaarige Schönheit, umgeben von wolfartigen Monstern. Reißzähne glänzten im Mondlicht. Schwarzes Fell hing von ihren verwesenden Körpern. Zwischen ihnen sahen Sam und ihre Freunde aus wie Miniaturausgaben einer armseligen, unterentwickelten Rasse.
»Fuck«, entfuhr es Freya, als ihr Blick auf eine Gestalt fiel, die unentwegt auf zwei der Monster zielte, jedoch immer weiter von den anderen abgeschnitten wurde.
»Connor, töte sie endlich!«
Freya verstand seine Erwiderung nicht, aber als ein leises Klicken ertönte, war ihre Entscheidung gefallen. Sie sprintete los, sprang auf die Reste des ehemaligen Mausoleums und schaffte es so, wenigstens wenige Zentimeter über einem der Monster aufzuragen, die Connor immer weiter in die Enge trieben.
Ohne wenigstens einen Moment über das Kommende nachzudenken, rannte sie weiter, sprang und flog für wenige Sekunden durch die Luft, bevor sie eine ihrer Klingen im Schädel des Monsters versenkte, welches gerade dabei war, sich aufzubäumen. Das Wesen gab einen letzten kläglichen Laut von sich, bevor es zu Boden ging. Freya griff in das dichte Fell, welches mit schwarzem Blut verklebt war. Noch bevor sie endgültig auf dem Boden aufschlugen, zog Freya ihre Glock aus dem Hosenbund, sprang vom Kreuz des Viehs und warf Connor die Waffe zu. Irritiert schaffte er es, diese im letzten Moment aufzufangen, während Freya sich bereits vor das zweite Monster stellte.
Der Schädel der Kreatur senkte sich. Knochenfragmente stachen aus dem Fell hervor, wo eigentlich Augen sein sollten. Zwischen den gefletschten Zähnen tropfte zähflüssiges, schwarzes Blut zu Boden. Der Geruch von Fäulnis erstickte alles.
Freya wirbelte ihre Klingen durch die Hände und betrachtete das Geschöpf.
»Bist du lebensmüde?«, brüllte es hinter ihr. Mit einem kurzen Blick über die Schulter gab sie Connor eine schweigende Antwort. Purer Wahnsinn tanzte durch ihre Augen.
Im nächsten Moment sprintete sie los und verschwand mit erhobenen Klingen unter dem Leib der Wolfsgestalt.
Minuten verstrichen, in denen Freyas Anwesenheit zwar zur Kenntnis genommen wurde, aber keine Zeit für eine Begrüßung blieb. Sie kämpfte Seite an Seite mit Gesichtern, die ihr sowohl bekannt als auch völlig unbekannt waren. Erst als das letzte Monstrum von Sam niedergestreckt worden war, nahm Freya sich einen Moment, um tief durchzuatmen.
Um die Gruppe stapelten sich leblose Fellhaufen und schmiegten sich so perfekt in ihre Umgebung. Tod und Verwüstung waren das Einzige, was dieser Ort noch zu bieten hatte.
Sam trat mit bebendem Brustkorb vor sie. »Schön, dich lebend wiederzusehen.«
Freya nickte und sah durch die Runde. »Wir haben mehr Mittelalterbrut zur Unterstützung bekommen?«
»Dafür scheinbar andere verloren«, erwiderte Sam. »Wo ist dein Anhang?«
Freya schnaubte. »Hahnenkämpfe.« Sie zuckte mit den Schultern und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Keine Ahnung, ob sie noch leben oder uns von ihrer Existenz erlöst haben.«
Sie sah sich noch einmal um und zog dann eine Braue nach oben, als Connor in ihr Sichtfeld trat. »Und wer bist du?«, fragte er.
»Jemand, der nicht zögern wird, dir den Arsch aufzureißen«, antwortete Dean statt Freya. Sein leicht gehässiger Unterton sorgte dafür, dass Freya sich wieder an Sam wandte.
»Scheint, als hättest du ähnliche Probleme am Hals.«
Die Rothaarige rollte mit den Augen und winkte ab. »Frag lieber nicht. Lass uns lieber darüber reden, was hier los ist und wie wir aus dieser Scheiße wieder rauskommen.«
Gerade als Freya zu einer Antwort ansetzen wollte, ertönte ein leises Klingeln. Sanft. Beruhigend. Nur Freya kniff die Augen zusammen und stöhnte. »Also keine Erlösung.«
Sie richtete sich auf, trat einen Schritt nach vorn und starrte in die dunklen Schatten. »Wenn ihr weiterleben wollt, haltet die Klappe und bewegt euch nicht, bis ich etwas anderes sage, verstanden?«
Für eine Antwort blieb auch diesmal keine Zeit, denn Grimm trat bereits aus den Schatten, dicht gefolgt von Stan, dessen Gesicht an mehreren Stellen aufgeplatzt war.
»Ihr lebt also noch«, stellt Freya fest, zog dabei ihre Waffen und zielte auf die beiden. »Es gibt ab sofort Regeln. Erstens: Ihr schweigt. Beide! Zweitens: Es werden nur noch mutierte Kreaturen angegriffen. Egal, ob ihr euer Gegenüber ausstehen könnt oder nicht. Keine weiteren Schwanzvergleiche! Drittens: Brecht ihr eine der beiden Regeln, scheiße ich auf euer Können und ihr beiden gehört einer armseligen Vergangenheit an. Verstanden?«
Ein Knurren ertönte, doch beiden schien mehr als bewusst zu sein, dass, während sie sich sinnlos die Fressen demoliert hatten, hier ein Kampf ums Überleben geherrscht hatte. Freyas Zündschnur war abgebrannt und keiner wollte der letzte Funke für die Explosion sein.
Ein stummes Nicken ließ Freyas Waffe verschwinden und die beiden in ihren Schatten treten.
»Wo das geklärt ist …«, sie deutete den anderen an, dass sie sich wieder bewegen durften. »Zurück zum eigentlichen Problem. Wie bekommen wir diese Scheiße wieder in den Griff?«

11.png

Kapitel 12

»Ich hege langsam die Vermutung, dass es vermutlich besser gewesen wäre, dieses Kaff zu verlassen, nachdem wir die erste Scheiße hinter uns gelassen hatten«, grummelte Dean und ließ seinen Blick über die stinkenden Leichen gleiten.
»Hab ich das gerade richtig gehört?« Die Stimme von Samantha war ein Lachen, halb Belustigung, halb Müdigkeit.
Dean verdrehte die Augen. »Bilde dir nichts drauf ein«, konterte er und sah wieder zu Freya. »Vermutlich liegt die Wurzel des Übels bei oder in der Krypta.«
»Skádi hat das Ding gesprengt«, rief Freya ihm in Erinnerung. »Es gibt keine Krypta mehr.«
Samantha lachte trocken. »Glaub mir, das haben wir nicht vergessen. Aber irgendwas hat sie bei der Sprengung freigesetzt. So schräg wie dieses Kaff ist – diese Dinger hier sind garantiert nicht heimisch.«
Connor ließ sein Feuerzeug aufflammen und Orange flackerte über sein Gesicht, ließ die Ringe an seinen Fingern wie kleine Monde glimmen. »Wen juckt das schon?«, fragte er und hielt Freya eine Zigarette hin. Diese nahm sie, zündete sie an und inhalierte tief. Als Stan ebenfalls die Hand ausstreckte, zog Connor die Schachtel zurück. »Sorry, Kumpel. Ich teile nicht mit jedem.«
Stan verzog das Gesicht, wollte etwas sagen, doch Freya schnitt ihm das Wort ab: »Ich sagte: Schnauze halten.«
Samantha trat einen Schritt zurück. Ein leises Knacken ertönte und unter ihrer Sohle zerbarst etwas. Sie sah hinunter: ein Fingerknochen, bräunlich, noch feucht.
»Mich juckt es … irgendwie«, griff Samantha die Frage von Connor wieder auf. »Ich weiß, mir könnte dieses Kaff egal sein, aber hier leben Menschen. Vielleicht sogar Unschuldige. Und selbst wenn nicht – wer sagt uns, dass diese Seuche hierbleibt? Dass sie nicht irgendwann bis zu uns schwappt?«
Connor nahm einen langen Zug und blies den Rauch aus. »Zwischen diesem Drecksloch und Cali liegt eine ziemlich große Pfütze.«
»Zwischen unserer Welt und dieser«, ertönte eine sanfte, fremde Stimme hinter ihnen, »liegen Universen und dennoch sind wir hier.« Er trat näher, lächelte beinahe ehrfürchtig und verneigte sich knapp vor Freya. »Tork Inshir. Sehr erfreut.«
Einen Moment lang antwortete niemand. Dann schnaubte Freya: »Na super, noch ein Mittelalter-Spacken. Wird ja immer besser.«
Tork ignorierte den scharfen Ton in der Stimme und sprach weiter: »Wenn unsereins es in diese Welt schafft, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch diese Kreaturen weiterziehen. So, wie dieser Ort aussieht, wird das wohl sehr bald der Fall sein.« Seine Augen glitzerten im Schein einer fernen Straßenlaterne — nicht hoffnungsvoll, nur aufmerksam.
Dean machte eine theatralische Handbewegung, die den ganzen Friedhof mit einem Schwung umfassen sollte. »Das hier?« Er grunzte. »Die Scheiße haben wir nicht diesen Kreaturen zu verdanken, sondern einem durchgeknallten, grünhaarigen Zwerg.«
»Oh«, war alles, was der Krieger dazu zu sagen hatte. »Mir war nicht bekannt, dass Zwergen eine solche Macht gegeben ist.«
»Skádi ist nicht wirklich ein Zwerg. Sie ist ein beschissenes Experiment und findet es witzig, Dinge in die Luft zu jagen.« Freya warf den Zigarettenstummel in den Dreck, der Funke tanzte wie ein kleiner, empörter Stern, bevor er erlosch. »Also, Pläne?«
Ein Krieger mit mehr Bart als Gesicht trat vor, begleitet von zwei anderen und einem grünhäutigen Riesen. »Den Verursacher finden und töten?«, grollte Boog.
»Skádi? Oder reden wir von Schildmaid und Thorn?«, fragte Dean und verschob sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Alle drei sind keine Option«, erklärte Samantha. »Skádi sprengt uns vermutlich alle in die Luft, bevor wir überhaupt die Waffen gezogen haben und unsere gestörten Erschaffer zu töten, bedeutet sehr wahrscheinlich uns selbst zu töten.« Ihre Stimme war flach, sachlich, wie das Aufsagen einer Einkaufsliste inmitten eines Brandes.
»Kein Suizid also«, brummte Connor. »Dann vielleicht… ach fuck… ich bin nicht besoffen genug für den Bullshit… aber dann sollten wir wohl zum Zentrum der Apokalypse. Der nicht mehr vorhandenen Krypta.«
»Und dann? Setzen wir einen Korken auf das Loch im Boden und hoffen, dass keine weiteren … Dinger mehr daraus hervorkriechen?« Dean zog eine Augenbraue hoch, eine Geste, die irgendwo zwischen Sarkasmus und absoluter Verzweiflung schwebte.
Samantha zuckte mit den Schultern, aber ihre Finger trommelten ein unruhiges Lied gegen ihre Oberschenkel. »Du bist heute äußerst unprofessionell und unleidlich, Lieutenant Cooper.«
»Als ob du Spaß an dieser Scheiße hier hättest.«
»Sicher nicht, aber Bock darauf, mit diesen stinkenden Viechern zu leben, habe ich auch nicht. Ich will den Mist beenden und wieder ganz gechillt zurück in mein langweiliges L.A. Leben.«
»Schön, da keiner von euch einen besseren Plan hat als unser Rockstar hier, laufen wir wohl einfach blind unserem Verderben entgegen«, schnauzte Freya und fügte hinzu: »Also alles wie immer.«
»Vielleicht finden wir auf dem Weg ja auch die restlichen Penner wieder«, warf Samantha ein. »Und wehe, diese Flachpfeifen sind nicht ebenfalls über und über mit Blut und was auch immer besudelt oder tot, dann tunke ich sie persönlich in die Überreste dieser Dinger.«
Tork runzelte die Stirn. »Iskaii lebt, das weiß ich. Und er ist ganz in der Nähe.«
»Noch mehr solches Hinterwäldler-Gelaber und keiner von euch überlebt den nächsten Atemzug«, zischte Freya. Ihr Blick war ein Versprechen, nicht eines, das man leiden würde, sondern eines, das man fürchtete.
Connor musste grinsen. In seinem Gesicht lag die Art von Humor, die man nur hat, wenn einem schon alles andere genommen wurde. »Na dann, auf ins Verderben.« Er hob die Faust, eine lächerlich triumphierende Geste angesichts eines Friedhofs, der aussah, als hätte er selbst seinen eigenen Sarg vergessen. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an und marschierte los.

11.png

Kapitel 13

Schweigend stiefelten sie durch die beklemmende Dunkelheit, während der Gestank von Verwesung immer intensiver wurde. Tork schlich dabei nahezu lautlos an Freyas Seite. »Eure Schwertführung ist außergewöhnlich. Wer hat Euch den Kampf gelehrt?«
Freya hob eine Braue, doch ehe sie etwas erwidern konnte, landete eine Hand auf seiner Schulter und zerrte ihn zurück. »Abstand, Kumpel. Andernfalls vergesse ich die aufgestellten Regeln.«
»Stan«, fauchte Freya, aber ihre Worte verhallten im Nichts.
Ihr Schatten baute sich vor dem Krieger auf und funkelte ihm drohend entgegen. Stans blassblaues Auge schien zu leuchten, während das braune vollkommen mit den Schatten der Nacht verschmolz.
»Packt eure verdammten Schwänze ein«, brummte nun auch Samantha und scheute sich nicht davor, Stan eine auf den Hinterkopf zu verpassen. »Ich bin auch kein Fan von den Mittelalterkaspern, aber sie nützen uns zumindest im Kampf.«
Dean und Connor lachten auf, nur wenig bemüht, es zu verbergen. Schön, dass sie sich zumindest dabei einig waren.
Die Gruppe war mittlerweile wieder zum Stehen gekommen. Freya rieb sich genervt die Schläfen. »Ich sage das jetzt ein letztes Mal. Entweder ihr bekommt euch in den Griff und dieses Alpha-Kevin-Verhalten findet sofort ein Ende oder …«, sie nahm sich die Zeit, jedem männlichen Anwesenden einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, »… ihr sterbt und ich zieh das hier mit Sam allein durch.«
Tork und seine Freunde der Anderswelt verzogen das Gesicht. Ratlosigkeit machte sich zwischen ihnen breit.
»Sie nimmt euch das Leben, solltet ihr nicht gebührend Abstand und eure Münder halten.« Die tiefe Stimme grollte aus der Finsternis, wie ein nahendes Gewitter.
»Na klasse, dann sind die Sprachfehler ja endlich wieder vereint«, kommentierte Freya Iskaiis Auftreten. Dieser schälte sich gerade so weit aus den Schatten, dass seine Umrisse zu erkennen waren. Torks Miene hellte sich augenblicklich auf.
Bevor sie sich jedoch angemessen begrüßen konnten, zog ein dunkler Schatten über sie hinweg, der alle kurz zusammenzucken ließ.
»Vielleicht war das mit dem Verderben eine beschissene Idee«, murmelte Connor, zog seine Waffe aus der Tasche und trat einen Schritt näher an Freya.
Die sah ihn mit gerümpfter Nase an, als würde eine Fliege sich auf ihrer Schulter niederlassen.
Das Schlagen von Flügeln kam näher und sofort ergriffen alle außer Iskaii die Waffen. »Es umgibt uns keine Gefahr.«
Dean lachte, während er seine Waffe fester griff und blind vor sich in die Dunkelheit zog. »Sicher. Und ich bin ein rosa Pony mit glitzerndem Horn.«
»Halt die Fresse«, knurrte Samantha, die im Augenwinkel sah, wie Connors Augen groß wurden und seine Mundwinkel zuckten. »Oder ich schließe mich Freya an und vergesse kurz, dass ich eigentlich für dein Überleben verantwortlich bin.«
Freya warf einen weiteren Blick auf Connor und sah dann Sam fragend an. »Wenn wir die Scheiße überleben, gehen wir einen trinken und dann würde ich gern hören, wie du dir diesen Bullshithaufen angelacht hast.«
»Hey … Was soll das denn jetzt heißen?«, fragte Connor ernsthaft empört. »Ich dachte, wir haben diese Verbindung.«
Diesmal ertönte ein grollendes Lachen hinter den beiden. »Er kennt dich nicht, oder?«, fragte Grimm und schob sich hinter Freya.
Das Knacken von brechenden Ästen ertönte vor ihnen und ein Schatten ging zu Boden.
Sofort kam Bewegung in die Gruppe, nur Iskaii blieb weiter entspannt im Halbschatten stehen.
»Fuck, was ist das schon wieder?«
Die schemenhafte Gestalt kam weiter auf sie zu und die Anspannung stieg, ebenso wie die nervös zuckenden Finger, an den entsicherten Waffen.
»Scheiß drauf«, raunte Connor und drückte ab. Der Schuss zerriss die anhaltende Stille. Man hörte einen dumpfen Aufprall, gefolgt von einem aufgebrachten Fauchen.
»Hast du, Bastard, gerade auf mich geschossen?« Noraja trat aus der Dunkelheit in den sanften Schein des Mondlichtes. Schwarze Flügel spannten sich um sie herum auf. Weiße Reißzähne schoben sich über ihre Unterlippe. In ihren Augen zuckte eine schwarze, pulsierende Masse. Ihr gesamter Leib war mit schwarzem Schleim überzogen. Blut lief aus ihrem Mundwinkel und sie hatte Connor eindeutig als ihr nächstes Opfer auserkoren.
»Was zur Hölle?«, keuchte Connor kaum hörbar und wich einen Schritt zurück.
»Das war ein Fehler, Kumpel. Wahrscheinlich dein letzter«, spottete Dean, während er die Waffe senkte und die Arme vor der Brust verschränkte. Offensichtlich bereit dazu, die kommende Show zu genießen.
Connor wich weiter zurück und warf Sam einen verzweifelten Blick zu. »Hilf mir.«
Doch die Rothaarige schüttelte nur den Kopf. »Oh nein. Auf gar keinen Fall.«
Panisch zielte er erneut und drückte ab. Die Kugeln schlugen gegen Norajas Brustkorb und prallten einfach ab.
»Er ist an Dämlichkeit aber auch nicht zu übertreffen«, brummte Freya kopfschüttelnd.
»Müssen wir uns Sorgen machen?«, fragte Grimm angespannt.
»Nö, außer du hast vor, ihr ebenfalls eine Kugel zu verpassen.«
In dem Moment schoss Noraja auf Connor zu, packte ihn am Kragen und hob ihn in die Luft, als würde er nichts wiegen.
»NEIN. NEIN. NEIN. Nicht schon wieder. Nicht wieder dieser verfickte Friedhof«, polterte es auf einmal aus dem Unterholz und Sekunden später tauchte Jason auf. Er brauchte nur Sekunden, um die Situation zu erfassen. »Natürlich. Was auch sonst? NORAJA!«
Er schob sich unsanft zwischen Tork und Grimm hindurch, warf Freya einen angepissten Blick zu und verpasste Dean einen unsanften Stoß mit dem Ellenbogen.
»Jedes Mal derselbe Bullshit. Noraja, lass ihn runter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du seine Eingeweide nicht zum Dekorieren von dieser Scheißegrube hier verwenden darfst.«
Noraja gab ein frustriertes Fauchen von sich, während sie den bleichweißen Connor wie eine Puppe hin und her schüttelte.
»Ich sagte: Lass ihn runter! Sofort!« Jason hatte es bis zu ihr geschafft, packte ihre Haare und zerrte ihren Kopf zurück.
Sie wirbelte mit Connor herum, dessen Körper krachte dabei gegen Jasons und gemeinsam gingen sie zu Boden. Jason schob Connor augenblicklich von sich, sprang auf und stellte sich Noraja entgegen. Ihre Augen waren schwarze Wirbel, die sich nun voll auf Jason fokussiert hatten. Der schnippte mit den Fingern vor ihrem Gesicht umeinander. »Erde an Blutrausch. Es reicht. Komm schon. Schlimm genug, dass ich schon wieder die Couch verlassen musste.«
Noraja atmete schwer, doch langsam ließ der Sturm in ihren Augen nach und das strahlende Blau ihrer Pupillen trat hervor. Aber kaum dass diese vollständig zu erkennen waren, schlug ihre Faust in Jasons Kiefer ein.
»Ich bin kein verdammter Köter, der auf ein Schnipsen reagiert«, knurrte sie, verpasste ihm einen Tritt in die Rippen und stieg dann über seinen sich krümmenden Körper.
»Ich liebe dich auch«, keuchte er in den feuchten Boden und atmete gegen den Schmerz an.
»Gut, wo das jetzt geklärt ist. Weiter gehts«, forderte Freya, als hätte es die letzten zehn Minuten nicht gegeben.
Connor rappelte sich vom Boden auf und streckte dann Jason die Hand entgegen. »Danke.«
Jason schnaubte abfällig, nahm seine Hilfe aber an und richtete sich auf. »Sag mir lieber, was du getan hast?«
»Er hat auf sie geschossen. Mehrfach«, antwortete Dean grinsend.
Jasons Blick wanderte von Dean zu Connor zurück. »Du hast auf meine Frau geschossen?« Wut pulsierte in Jasons Adern. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Das wird immer besser«, kommentierte Dean abermals und diesmal verpasste Sam ihm eine auf den Hinterkopf.
»Halt endlich deine verdammte Fresse.«
Doch Jason brauchte keine weitere Ermutigung. Er griff Connor an und einen Wimpernschlag später lagen beide wieder im Dreck.
»Nein. Das war’s!« Freya wollte sich gerade abwenden. Sie hatte entschieden, dass sie den Punkt erreicht hatten, an dem sie ausstieg. Sie würde sich jetzt einen hübschen Platz suchen, sich betrinken und grinsend dabei zusehen, wie die Welt vor die Hunde ging. 
Doch Iskaii hielt sie auf. »Ich unterbreche diese Aufführung von fehlendem Verstand nur ungern«, begann er in einem rauen, flüsternden Ton, »aber wir sind nicht mehr allein.«

11.png

Kapitel 14

»Ach komm schon, echt jetzt?«, stieß Samantha genervt aus. Ihr Atem hing als weiße Schwade in der kalten Nachtluft, neben ihr zogen Tork und die Krieger ihre Waffen.
Am Boden rührte sich das Knäuel aus Armen, Beinen und Flüchen. Jason hatte Connor halb in den Matsch gedrückt, sein Knie auf dessen Brust, die Fäuste noch voller Adrenalin. Einen Moment lang sah er zu Noraja hinüber. Kein Wort fiel, doch der Blick war deutlich: Kann ich ihm weiter die Fresse polieren oder braucht ihr mich?
Connor nutzte die Sekunde der Unsicherheit, um Jason von sich zu stoßen. Er stand auf, wischte sich den Dreck von der Lederjacke und tat so, als hätte er die Oberhand behalten. Dann zog er seine zerdrückte Zigarettenschachtel hervor, hielt sie Jason hin. »Toll, du Pisser. Die sind hinüber.«
»Schnauze!«, knurrte Stan. »Gibts ’ne Chance, dass der Hinterwäldler sich irrt?«
Das Schmunzeln, welches sich bei diesem Satz um Torks Lippen kräuselte, sollte Antwort genug sein. »Iskaiis Gabe irrt sich nicht.« Er sprach den Satz ruhig aus, fast ehrfürchtig, und das ließ selbst Samantha unbewusst einen Schritt zurückweichen.
»Klar«, brummte Stan und jetzt zog auch Freya wortlos ihre Klingen.
Dann erklang ein Kreischen.
Es war kein Tierlaut, nichts, was man hätte zuordnen können. Es klang, als würde Metall über Glas reißen, als würde jemand gleichzeitig lachen und sterben. Der Schrei zerschnitt die Nacht und schob sich in ihre Knochen, hinterließ eine Gänsehaut, die nicht mehr wich.
Dean hob instinktiv seine Waffe, die Hände zuckten leicht. »Was zur verfickten Hölle war das?«
Er spannte den Hahn durch, aber schon jetzt lag in seinem Blick das Wissen, dass Kugeln hier nur das Pfefferspray in einem Albtraum waren.
Noraja trat einen Schritt vor, ihre Pupillen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Das werdet ihr nicht glauben«, sagte sie leise. Ihre Stimme hatte diese gefährlich ruhige Note, die verriet, dass sie wirklich wusste, wovon sie sprach.
»Wenn du das sagst, will ich’s gar nicht wissen«, murmelte Jason, kam endlich auf die Beine und klopfte sich den Dreck von den Händen. »Ist noch jemand dafür, lieber die nächste Kneipe aufzusuchen, bevor was auch immer uns zu Filet verarbeitet?«
Connor hob zwei Finger. »Jup.« Er zog trotzdem seine Waffe und entsicherte sie.
Ein weiteres Kreischen durchschnitt die Luft und diesmal zog auch Iskaii das Schwert, ließ die Klinge kurz in seiner Hand kreisen.
Der Boden begann zu vibrieren. Erst kaum spürbar, ein Zittern, das durch die Schuhsohlen kroch. Dann stärker. Steine sprangen, Risse zogen sich durch den Boden. Samantha und Freya tauschten einen Blick – kein Wort, nur der stumme Austausch von Angst und Erkenntnis: Was auch immer da kam, war zu groß, um natürlich zu sein.
Ein grollendes Stampfen, dumpf wie ferner Donner. Der Nebel vor ihnen wallte, als würde etwas Riesiges darin atmen. Schatten formten sich. Ein Umriss, unförmig, zu hoch, zu breit – und sich langsam bewegend.
»Was ist das jetzt wieder für eine Scheiße?«, fauchte Dean, und der Satz hing schwer zwischen ihnen, als die nächste Welle Verwesungsluft über sie hinweg rollte. Der Gestank war unaussprechlich. Feucht, süßlich, faul. Samantha würgte, während Freya sich den Ärmel vors Gesicht presste.
»Ist das wieder so’n Viech aus eurer Welt?«, rief der Cop und drehte sich halb zu Iskaii und Tork um. Beide standen jetzt Schulter an Schulter - zwei Krieger vor einem drohenden Sturm.
»Nein«, antwortete Kiwan von hinten, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »So etwas hat noch nie in unserer Welt geatmet.«
Dann trat es aus dem Nebel.
Langsam.
Schritt für Schritt.
Ein gewaltiger Schädel zuerst, dann ein Hals, so dick wie ein Baumstamm. Das Fleisch hing in Fetzen, als hätte jemand es halb gegessen und dann vergessen. Fliegen summten aus den leeren Augenhöhlen, Nebel kroch durch offene Rippenbögen.
Samantha fühlte, wie ihr Herz stillstand. Freya machte einen unkontrollierten Schritt zurück.
Jason stand da mit offenem Mund.
»Ist das … ein verfluchter T-Rex?«, brachte er schließlich hervor und wich hastig zwei Schritte zurück. »Verfickt noch eins – vergesst es, ich bin raus!«
»Es stammt also aus eurer Zeit?«, fragte Jorg, eine Augenbraue gehoben und hob die Klinge, unschlüssig, ob man dieser Kreatur in den Kopf, in den Bauch – oder in die verdammt kurzen Arme stechen sollte.
»Na ja, nicht ganz«, murmelte Samantha, während sie unbewusst einen Schritt nach vorn machte. »Diese Dinger sind seit … 66 Millionen Jahren ausgestorben.«
»Sieht aber nicht so aus, als hätte es sich gut gehalten«, knurrte Boog, den Blick auf die Rippen gerichtet. Dort, zwischen zwei halbverwesten Muskelsträngen, tropfte eine dunkle Flüssigkeit zu Boden. Das Ungetüm senkte den Kopf – ein Geruch nach Tod und Erde, nach längst vergangener Zeit und frischem Blut wehte über sie hinweg.
Connor grinste schief, richtete seine Knarre auf den Kopf und meinte trocken: »Zombie-Jurassic-Park. Fehlt nur noch Jeff Goldblum mit ’nem Flammenwerfer.«
Niemand lachte.
Er wollte abdrücken – der Finger schon am Abzug –, doch Norajas Stimme hielt ihn zurück. »Wartet! Keiner greift an!«
Jason riss den Kopf zu ihr herum. »Willst du dich verspeisen lassen?«
Doch das ungläubige Funkeln in seinen Augen erlosch, als er sah, was sie längst gesehen hatte.
Etwas regte sich auf dem Rücken des Untiers.
Zwischen dampfenden Fleischlappen und aufplatzenden Sehnen kletterte ein Mensch empor. Hände und Füße suchten Halt im fauligen Gewebe, das unter seinem Gewicht schmatzend nachgab. Ein widerlicher Nebel stieg aus den Wunden des T-Rex, süßlich, wie verbranntes Fleisch.
»Jetzt wissen wir, wo der andere Hinterwäldler abgeblieben ist«, murmelte Freya trocken und ließ ihre Klingen wieder in den Scheiden verschwinden.
Antry hielt sich an einer Rippe fest, das Schwert tief in die uralte Haut gerammt. Der Krieger wirkte wie eine winzige, störrische Made auf einem Gott aus Fleisch. Er kämpfte sich höher, während der Dinosaurier unter ihm mit einem tiefen, nassen Grollen die Erde erbeben ließ. Die kurzen Arme des Monsters ruderten vergeblich in der Luft – grotesk hilflos. Antry stieß sein Breitschwert mit einem wütenden Schrei in die Schädeldecke. Ein markerschütterndes Kreischen zerriss die Nacht.
Der T-Rex stürzte.
Sein massiger Körper riss Trümmer mit sich, schleuderte Marmor und Erde in die Dunkelheit. Die Gruppe warf sich zur Seite, Hechtsprünge durch Staub und Leichengeruch, begleitet von unkoordinierten Flüchen und Schmerzenslauten.
Dann Stille.
Nur der Staub tanzte, golden im Mondlicht, das zwischen den Wolken hervorsickerte.
Als das Beben nachließ, richteten sie sich hustend auf. Vor ihnen lag der Kadaver, wieder leblos, das Maul halb geöffnet, als wollte er noch etwas sagen. Antry zog sein Schwert aus der Schädeldecke, Blut tropfte von der Klinge. Er drehte sich um und stand Iskaii gegenüber.
Sein Blick war reines Feuer.
»Wo ist sie?« Keiner musste fragen, wer gemeint war.
Doch die Antwort kam kurz darauf aus dem Nebel. Eine zierliche Gestalt rannte auf sie zu und wütete direkt los: »Was hast du dir dabei gedacht, Antry! Dieses Ding hätte dich zerfetzen können!«
»Hat es nicht«, knurrte der Krieger, kurz angebunden, und seine dunklen Augen fanden Noraja.
Für einen Moment schien alles zu erstarren – nur der Wind flüsterte über die Grabsteine.
»Dich hat es also auch wieder hierher verschlagen.«
»Sieht so aus.« Noraja zog die Schultern hoch, aber ihr Ton war weich. »Ich dachte, ihr könntet Hilfe gebrauchen.«
Jason trat vor, seine Silhouette kantig im schwachen Licht. Die Eifersucht stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er legte demonstrativ den Arm um Norajas Hüfte, zog sie dicht an sich.
»Sag jetzt kein Wort«, zischte sie und befreite sich genau in dem Moment, als ein dröhnendes Hupen den Friedhof erreichte.
»Was ist das denn jetzt schon wieder?« Freya rieb sich die Schläfen.
Der Boden vibrierte erneut, diesmal rhythmisch. Zwischen zerborstenen Grabsteinen wälzte sich ein Schwertransporter heran – eine rostige Bestie aus Metall und Öl. Er kam zum Stehen, direkt vor der Gruppe. Scheinwerfer blendeten sie, und im grellen Licht zeichnete sich die monströse Fracht auf der Ladefläche ab.
»Nein! Auf gar keinen Fall!«, rief Freya empört aus.
Dean blinzelte, unfähig, das Gesehene zu verarbeiten. »Ist das ... eine verschissene Atombombe?«
Die Fahrertür quietschte auf, und Liam sprang heraus – staubbedeckt, das Grinsen eines Mannes, der zu viele schlechte Ideen überlebt hat. Er lehnte sich lässig gegen den Truck, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in Richtung der Bombe.
»Du sagtest, wir brauchen eine Lösung, falls Iskaii und Skádi versagen«, sagte er seelenruhig. »Letztere hab ich übrigens noch immer nicht gefunden.«
Samantha trat einen Schritt vor. »Du willst nicht ernsthaft dieses Ding zünden?«
»Warum nicht?«
Sie umkreiste das Fahrzeug, musterte ungläubig die Bombe, die darauf verzurrt war.
Liam folgte ihr mit den Augen – etwas zu lang, etwas zu genießerisch.
»Meine Aufgabenstellung war klar«, sagte er schließlich und zog genüsslich an seiner Zigarette. »Etwas zu finden, das dieses Kaff dem Erdboden gleichmacht.«

11.png

Kapitel 15

Liams selbstgefälliges Grinsen hielt an, während der Rest in eine wilde Diskussion ausbrach.
»Wir können keine Atombombe zünden«, echauffierte sich Dean.
»Danke, das wissen wir selbst«, schnaubte Jason.
»Da bin ich anderer Meinung«, ergänzte Liam. »Ihr tut, als würde sie die gesamte Erde ausrotten.«
Samantha funkelte ihn mit einer Mischung aus Zorn und Entsetzen an. »Na, auf jeden Fall würde sie mehr zerstören als dieses beschissene Kaff.«
Liam rollte mit den Augen. »Na und, dann gehen halt noch ein paar mehr drauf. Hast du eine bessere Idee?«
Hatte sie nicht, zumindest nicht im Moment.
Jason kramte seine Zigaretten aus der Jackentasche und atmete erleichtert auf. Seine Schachtel sah eindeutig besser aus als Connors. Und weil er kein Arschloch war, reichte er ihm eine.
»Danke. Whiskey hast du nicht zufällig auch dabei?«
Jason schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin davon ausgegangen, dass ich Noraja kurz schütteln muss und dann zurück auf die Couch kann, nicht dass ich schon wieder in einem Weltuntergangsszenario feststecke.«
Connor zog an der Kippe. »Ja, ich hatte auch schon bessere Tage.«
»Vergessen wir mal kurz den Wahnsinn über das Ausmaß dieser Idee. Wie zur Hölle willst du das Ding zünden?«, fragte Dean, der um den Laster schlich und die Bombe betrachtete. »Sieht nicht aus, als wäre ein Fernzünder dabei.«
»Tja, einer von uns wird wohl ein Held werden. Ein toter, aber immerhin ein Held«, erwiderte Liam immer noch grinsend. »Und nur um das festzuhalten: Ich werde es nicht sein. Ich habe das Teil immerhin organisiert.«
Dean gab ein abfälliges Schnauben von sich und trat, kopfschüttelnd, zurück zu Sam. »Wir sollten uns hier verpissen. Die Mission ist eindeutig gescheitert und ich werde meine letzten Stunden auf dieser Welt nicht auf einem verseuchten Friedhof verbringen.«
Samantha ließ ihren Blick wieder zu der Bombe schweifen. »Du gehst also davon aus, dass das der einzige Weg ist?«
»Nein, aber ich denke, dass es scheißegal ist, was wir sagen.« Er deutete auf Liam und Freya, die mittlerweile nicht mehr ganz so schockiert aussah. »Die beiden werden es durchziehen, selbst wenn wir uns an diese Bombe festbinden würden.«
»Da hat er nicht ganz unrecht«, kommentierte Stan die Situation. Er hatte sich an einen umgefallenen Grabstein gelehnt. Grimm schweigend neben ihm. Der nahende Tod schien auch die tiefsten Feindschaften pausieren zu lassen.
»Möge uns jemand erklären, was dieses Ding ist und warum es scheinbar sowohl unsere Rettung als auch unser Untergang zu sein scheint?« Iskaii trat aus dem Schatten, hinter ihm seine Andersweltfreunde. Nur Antry und Dandelia hielten sich abseits. Noraja auffällig nah an ihrer Seite.
Es schien sich keiner erbarmen zu wollen, Iskaii eine Erklärung zu geben, abgesehen von Jason. »Stell dir Skádi mit richtig schlechter Laune vor. Dann vervierfache das Ergebnis, durchziehe den Sturm noch mit einem Flammenmeer und schicke eine, alles zum Sterben bringende, Seuche hinterher.«
Für einen kurzen Augenblick erstarrte der Krieger. Ein Hauch Angst zog durch seine Gesichtszüge, doch schließlich richtete er sich wieder auf und sah sich um. »Also ein ähnliches Ausmaß, wie wir es hier schon haben.«
Jason verzog die Lippen zu einer schmalen Linie, bereit zu widersprechen, hielt dann jedoch inne. Er hatte recht. Skádi hatte die Energie aus der Umgebung gezogen, gebündelt und zur Explosion gebracht. Eine Seuche folgte, doch was, wenn …
»Leute, vielleicht sollten wir sie doch zünden«, begann Jason, doch ehe er weiterreden konnte, unterbrach ihn Freya.
»Ja, ich bin dafür. Scheiß auf dieses Kaff.« Sie zog ihr Handy und lief auf Noraja zu. »Wer ist noch dafür, dass wir uns hier verpissen und endlich in eine Kneipe einziehen?«
Connors Hand schoss sofort in die Höhe, während er den Rest seiner Kippe auf den Boden fallen ließ.
Noraja hob die Braue, als Freya vor ihr zum Stehen kam und die Arme wie ein Kleinkind in die Luft streckte, als erwarte es eine Umarmung. »Was soll das denn werden?«
»Flieg mich an einen Ort, weit weg von dieser Scheiße hier. Dafür geht die erste Runde auf mich.«
»Seh ich aus wie ein beschissenes Flugtaxi?«
»Nein, aber wie jemand, der ebenfalls keinen Bock mehr hat, hier zu sein«, ergänzte Connor, der nun neben Freya stand. »Wie viele kannst du mit einem Mal tragen?«
»Niemanden«, schnaubte Jason, der Connor und Freya sofort zur Seite schubste und den Arm um seine Frau legte.
Ein dunkles Knurren ertönte. Antry eindeutig. Jason spannte sich an.
»Kein Ton«, zischte Noraja, löste sich wieder aus seiner Umklammerung und sah Jason an. »Ich gehe davon aus, du wolltest erklären, warum wir diese Bombe zünden sollten.«
Jason fixierte für einen weiteren Moment den dunklen Krieger, dessen Anspannung erst verschwand, als Dandelia ihn sanft am Arm berührte.
»Ja, ich«, Jason rieb sich übers Gesicht, klärte seine Gedanken und wandte sich dann der Bombe zu. »Skádi kann Energie bündeln und sie lenken. Wenn wir dieses Ding zünden und Skádi die ausbrechende Energie auf einen bestimmten Radius bündelt, könnte das die Lösung sein. Vielleicht kann Alice ihr mit ihren Fähigkeiten helfen.«
Sam runzelte die Stirn und schob sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. »Du denkst an eine Art Schutzkuppel, die sie erschaffen sollen?«
»Genau. Damit rotten wir das hier«, er zeigte auf die Überreste des T-Rex, »alles aus und wenn sie die Energie anschließend in der Erde lenkt, haben wir zwar einen neuen Grand Canyon, aber zumindest nicht die ganze Welt in Schutt und Asche gelegt. Außerdem können wir dann sicher sein, dass, was auch immer da unten schlummert, ebenfalls vernichtet wird.«
»Da gibt es nur ein Problem«, ging Liam dazwischen und gesellte sich zu den beiden. »Kein Schwein weiß, wo Skádi ist.«
Stille breitete sich aus. Das war tatsächlich ein sehr wichtiger Fakt, der sich nicht abstreiten ließ.
»Nun, dann sollten wir dankbar darüber sein, dass ich keins dieser Tiere bin.« Iskaiis Stimme war mehr als schneidend, doch das ging Freya herzlich am Arsch vorbei. Ihr Kontingent für Bullshit war aufgebraucht.
»Willst du mir jetzt erzählen, dass du Penner die ganze Zeit wusstest, wo sie ist?«
Ein berechnendes Lächeln umspielte die Lippen des Kriegers. »Ich bin in der Lage, ihre Aura zu spüren.«
Brodelnde Wut jagte durch Freya und es kostete sie alles an Selbstbeherrschung, diese nicht an ihrer einzigen Chance, Skádi zu finden, auszulassen. »Würdest du dann deine Fähigkeit nutzen und deinen Arsch bewegen, um diese Irre hierher zu holen? Bitte.« Das letzte Wort war mit so viel Bitterkeit verseucht, dass selbst Iskaii sich eine weitere Diskussion sparte. Er wandte sich augenblicklich ab und verschwand in der Dunkelheit.
»Stan, Grimm. Folgt ihm«, befahl Freya und die beiden sprangen auf und gehorchten. Niemand wollte zum Opfer ihrer Wut werden.
Sie schnaubte, stemmte die Hände in die Hüfte und sah sich um. »Sehe ich das richtig? Skádi kann die Bombe nicht zünden und ihre Auswirkungen gleichzeitig in Schach halten?«
Jason zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber ich denke, das könnte schwierig werden.«
»Milano«, warf Liam ein. »Er ist schnell genug.«
Freya verzog das Gesicht, schien aber auch keine bessere Option zu finden.
»Dabei könnte ich helfen«, warf Samantha ein.
Dean und Connor sahen sie gleichzeitig fragend an. »Hast du Superkräfte, von denen wir nichts wissen?«, fragte der Cop.
»Nein, aber ich kenne jemanden, der uns mit dem Zünderproblem helfen kann.« Ihre Finger schwebten bereits über das Display ihres Handys.
Ehe noch jemand etwas erwidern konnte, brachen Norajas Flügel aus ihrem Kreuz und mit einem dumpfen Knurren schoss sie in die Höhe. Zwei Herzschläge später landete sie wieder auf der Erde. Ihre Sichelklingen fest in der Hand. Zeitgleich brachen Iskaii, gefolgt von Grimm und Stan, aus den Schatten. Ihre Waffen gezogen. Anspannung in den Leibern. Mordlust in den Augen.
»Wir haben ein Problem«, begann Grimm.
»Das Hupen und das Schreien des T-Rex könnten etwas laut gewesen sein«, setzte Stan fort.
»Wir sind umzingelt von lebenden Toten«, fasste Noraja es zusammen.
Kommentarlos, als würden sie sich tagtäglich in so einer Situation wiederfinden, fanden sie sich mit gezogenen Waffen in einem Kreis wieder. Die Blicke in die Dunkelheit des Friedhofs gerichtet – bereit für den hoffentlich letzten Kampf.

11.png

Kapitel 16

Der Wind kam zuerst. Voller Moder und Verwesung. Dann die Geräusche: das Knacken von Knochen, das Schlurfen von Fleisch, das Knurren von etwas Undefinierbarem. Der Friedhof bebte unter den Schritten der Untoten. Zerfetzte Gestalten, halb Mensch, halb Tier, halb etwas anderes. Scharfe Klauen, Münder, aus denen schwarzer Schleim tropfte. Einige krochen, andere rannten, einer flog - oder versuchte es, bevor ihm ein Flügel abfiel.
»Na das kann ja lustig werden«, raunte Connor und lud seine Waffe durch. 
Schwertklingen glänzten im Licht der flackernden Lampen, noch frisches Blut der letzten Welle tropfte von den Klingen auf den Boden. Kiwan drehte seine Streitaxt in Händen und murmelte: »Wenn sie noch einmal sagen, der Tod sei das Ende, hau ich ihnen persönlich den Beweis vom Kopf.«
Dann brach die Hölle los.
Die erste Welle prallte auf sie ein wie eine Flut aus Fleisch und Gebein. Schwerter rissen Körper auf, Axtklingen spalteten Schädel und Kugeln hinterließen Löcher in den Leibern und Gesichtern.
Einer der Sorks schrie, als eine Zombiehand ihm die Wange aufriss. Grimm packte die Kreatur, warf sie zu Boden und ließ seinen Fuß auf ihren Schädel krachen. Blut und Splitter spritzten.
»War mir eine Freude«, äußerte Grimm, warf seine bereits leer geschossene Waffe weg und zog zwei Klingen unter seinem Mantel hervor, um sich den nächsten Untoten zu stellen.
---
Leichen, Knochen, Körperteile, Federn, Fell und dutzende undefinierbare Teile überzogen bereits die Erde, als sich die Reihen der Angreifer endlich lichteten.
»Ich sehe Friedhof hinter all den verwesenden Körpern! Wir haben’s fast geschafft!«, rief Liam triumphierend und ballerte einem mutierten Wildschwein zwei Kugeln in den Schädel.
Doch eine zweite Welle kam - größer, wilder. Mutierte Hunde, deren Augen in die falschen Richtungen blickten; Vogelkörper mit Menschenköpfen, die in gebrochener Sprache schrien; eine Masse aus Leibern, zusammengewachsen, wie von einem Wahnsinnigen geschmiedet.
»Da lagst du wohl falsch«, kommentierte Dandelia und ihre Klinge schnitt durch Fleisch, das längst kein Blut mehr führen sollte.
Die Untoten um sie herum zerfielen nicht sofort - sie zuckten, zuckten weiter, krochen mit halben Körpern, mit Zähnen, mit purer Wut.
Antry packte einen von ihnen am Hals, hob ihn hoch, starrte in die leeren Augenhöhlen.  »Ihr wollt Leben«, zischte er, »sucht euch ein anderes Jahrtausend dafür.« Dann riss er ihm den Kopf ab.
Körper wurden gegen Grabsteine geschleudert. Knochen splitterten, Schädel barsten, Blut und Erde mischten sich zu einer schwarzen Brühe, die den Boden tränkte. Sie kämpften, ihre Kleidung schimmerte bereits schwarz, der Geruch von Tod reizte ihre Schleimhäute nicht einmal mehr und jeder Atemzug war Eisen.
»Das hört überhaupt nicht auf!«, brüllte Dean. »Das schaffen wir niemals ohne selbst zu einem von denen zu werden!« Er trat einem verwesten Affen ins Gesicht, während er zeitgleich das Magazin seiner Waffe tauschte.
»Ich schwöre, wenn ich hier draufgehe, kille ich Schildmaid und Jen, und zwar nicht auf die schnelle, angenehme Tour«, raunzte Freya und ihre Klingen fuhren zeitgleich in die Schädel zweier Wolf-Kuh-Mutanten. »Wer kann sich so einen Schwachsinn überhaupt ausdenken?«
»Niemand, der bei klarem Verstand ist«, kam es von Samantha und sie jagte ihre letzte Kugel in einen Menschen mit Pinguinkopf. »Shit, ich bin leer!«
»Same!«, schrie Connor und auch von Jason kam Zustimmung.
»War ganz nett mit euch«, verkündete Liam und schlug mit seiner leeren Waffe einem untoten Faultier mit Wolfskörper den Schädel ein.
»Sucht euch Deckung hinter uns!«, befahl Tork und trat mit einem schnellen Schritt vor Stan, um dem menschlichen Bären den Kopf abzuschlagen.
Iskaii neben ihm verharrte jäh und richtete seine Augen in die Dunkelheit hinter den Untoten. Dann kräuselten sich seine Lippen und ein Knistern durchzog die Luft.
»Oh Fuck«, kam es noch aus Norajas Mund, als auch sie begriff, was die Veränderung in der Luft bedeutete. Doch ehe sie reagieren oder die anderen warnen konnte, stimmten die Untoten ein markerschütterndes Gebrüll an.
Ihre Körper krampften und nur Sekundenbruchteile später zerplatzten sie, als wären sie alle in einen Häcksler geraten. Fleischklumpen und Blut regneten auf die Gruppe hinab und angewiderte Laute und Flüche drangen aus ihren Kehlen.
Dann Stille.
»Verfickte Scheiße noch eins!«, entfuhr es Connor. »Was für ein Bullshit läuft denn jetzt schon wieder?« Er schüttelte einen Rest – ja, was? – Gehirn oder war es ein geplatztes Auge von seinen Schuhen und verzog das Gesicht.
»Skádi zeig’ dich du dreckiges Miststück!«, befahl Freya gereizt, zog einen Hautfetzen von ihrer Schulter und warf ihn gegen Liams Brust, welchem daraufhin nur ein »Hey!« entfuhr.
Aus dem Nebel schlenderte eine grünhaarige Gestalt mit einem breiten Grinsen. »Was, Freya Shield? Willst du mir drohen?«, fragte Skádi und baute sich vor ihr auf. »Du weißt, dass dir das nicht gut bekommen wird.«
»Ja, schon klar. Aber wäre eine Warnung zu viel verlangt gewesen?«
»Freu dich einfach, dass ich nicht ganz so mies gelaunt bin und euch einfach ebenfalls in die Luft gejagt habe.«
Freya murmelte noch etwas Unverständliches, was Skádi ignorierte und den Blick auf Iskaii richtete. »Irgendwie steht dir der Gedärm-Look.«
»Könnt ihr später flirten?«, schaltete sich Dean ein und zupfte an seinem Shirt. »Wir wollten da noch so ein Atombomben-Ding hinter uns bringen. Was ich wohlgemerkt noch immer für eine beschissene Idee halte.«
»Und da du noch immer keine bessere Idee in den Raum geworfen hast, bleibt das unsere einzige Idee«, brummte Liam. »Was uns wieder zu dem Zünder Problem führt.« Seine Augen richteten sich auf Samantha. »Wofür du angeblich eine Lösung hast. Die da wäre?«
»Ich«, ertönte eine ihnen fremde Stimme, und ein überaus durchtrainierter Afroamerikaner in Cargohose, schwarzem Shirt und Boots schlenderte auf sie zu. An seinem Unterarm prangte ein Army-Tattoo.
»Und du bist?«, wollte Liam wissen und verschränkte – sich vor Samantha aufbauend – seine Arme vor der Brust.
»Jemand, den ich eigentlich nicht wiedersehen wollte«, kommentierte Dean und kopierte die Pose des Shieldzwilling.
Samantha rollte die Augen und erklärte: »Leute, das ist Tyreese. Ty, das sind die Gestörten aus dem Schildmaid-Thorn-Universum. Frag einfach nicht.« Sie zwang sich zwischen den beiden Männern hindurch und wollte wissen: »Hast du es?«
Der Soldat nickte, zog etwas aus der Tasche und warf es der Rothaarigen zu. Diese reichte es an Liam weiter. »Zufrieden?«

11.png

Kapitel 17

Liam musterte den Zünder, den Sam ihm entgegenstreckte. »Sollte funktionieren«, nuschelte er. Worte des Dankes an den Überbringer hingegen fand er keine.
Dean schloss sich seinem Verhalten an. Er schob sich wortlos an dem Neuankömmling vorbei und schnitt ihn damit von dem kommenden Gespräch ab. »Kannst du damit umgehen?«
Mit erhobener Braue sah Liam den Cop an und holte Luft.
Währenddessen sah Freya breit grinsend zu Sam, die nur die Augen rollte und ein genervtes Schnauben von sich gab. »Spar es dir, Shield.«
Freya hob abwehrend die Hände, als hätten ihr nicht bereits zu viele dämliche Kommentare auf der Zunge gelegen.
Die Gruppe stand unschlüssig zwischen einer Wagenladung Leichenteilen, die sich bis in die Baumkronen verteilt hatten. Über ihren eigenen optischen Zustand wollte nachweislich niemand sprechen. Aber eine kurze Dusche würde dieses Problem auf keinen Fall beheben.
»Und das soll unsere Lösung sein?«, fragte Connor, zog dabei an der Kippe, die Jason ihm soeben gereicht hatte, und betrachtete Skádi.
»Unterschätz sie lieber nicht«, murrte Jason, der damit beschäftigt war, die letzten Hautfetzen oder was auch immer es war, aus seinem Bart zu fummeln.
»Wäre mir im Traum nicht eingefallen«, erwiderte der Rockstar wahrheitsgemäß. »Trotzdem, sie sieht so … niedlich aus.«
Sein Blick klebte immer noch auf Skádi, deren grüne Haare ihren schmalen Körper umschmeichelten. Sie stand vor Iskaii, dem sie wohlgemerkt gerade so bis zur Brust reichte. Tork hatte sich neben ihnen eingefunden, ebenso wie die anderen Mittelalterkasper. Der kleine grünhaarige Zwerg schien eine besondere Ausstrahlung zu haben. 
»Aber wenn sie so mächtig ist … warum haben wir uns dann durch die ganze Scheiße hier kämpfen müssen?«, hinterfragte Connor die Situation abermals.
»Weil ich«, Skádi drehte sich zu ihm. In ihren Augen ruhten keine Pupillen mehr, sondern schwarze Sicheln. »Keine Lust hatte, eure Ärsche zu retten. Woran sich auch nicht wirklich etwas geändert hat.« Bevor Connor etwas erwidern konnte, wandte sie sich zu Freya und wackelte mit ihrem Handy. »Damit sind wir quitt und ich will eure dummen Gesichter für die nächsten Monate nicht mehr sehen.«
Freya verzog das Gesicht, verschränkte die Arme vor der Brust und gab ein gedämpftes Stöhnen von sich. Jeder spürte, dass sie lieber sterben würde, als die folgenden Worte auszusprechen, aber es half alles nichts. »Du musst uns einen Gefallen tun. Was bedeutet: Wir schulden dir danach alle was.«
»Auf gar keinen Fall«, knurrte Stan und schüttelte den Kopf.
»Willst du leben?«, fragte Freya, ohne ihn anzusehen.
»Wenn ich ihr dafür etwas schulde … nein.«
»Gut, dann kannst du ja hierbleiben und das hübsche Dinge auslösen, falls der Zünder nicht funktioniert.«
Stan sah zu der Bombe, an der Liam und Dean werkelten, zögerte, entschloss sich dann aber, sich mit einem dumpfen Grollen wieder an Grimms Seite zu verziehen.
»So schlimm?«, fragte dieser, und Stan warf ihm einen garstigen Blick zu. »Ich würde lieber dir einen Gefallen schulden. Reicht das als Antwort?«
Grimm trat einen Schritt zurück. Musterte Skádi skeptisch und schwieg. Na wenigstens einer, der das Konzept dieses Ausflugs verstanden hatte.
»Ich höre.« Echtes Interesse schwang in Skádis Stimme und ihre Augen funkelten amüsiert. Ja, sie malte sich definitiv bereits bildhaft aus, was genau für Gefallen sie von jedem Einzelnen einfordern würde.
Freya fasste die Idee zusammen. Knapp, präzise und ohne unterschwellige Beleidigungen oder offensichtliche Bedrohungen. Und ja, dafür klopfte sie sich gedanklich mehrfach auf die Schulter.
»Und? Machst du es?«, fragte der Shieldabkömmling nach fünf Minuten des absoluten Schweigens. Mittlerweile war jedes Gespräch verstummt und sämtliche Aufmerksamkeit lag auf den beiden Frauen.
Liam, Freya, Sam und sogar Dean hatten alle Pro- und Kontra-Argumente aufgezeigt und dabei deutlich gemacht, dass sie zwar nicht besonders scharf darauf waren, der gestörtesten Person von allen die Rettung der Welt in die Hände zu legen, aber die Erschöpfung und der Mangel an anderen Optionen sie schließlich zu einer vereinten Front hatten werden lassen.
Es dauerte weitere nervige Momente, bis Skádi die Augen schloss. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie einen Ton von sich gab. Ihre Stirn legte sich immer wieder in tiefe Falten, als würde sie einen inneren Monolog führen. Als sie jedoch die Augen öffnete, tauchten wie aus dem Nichts drei weitere mürrisch dreinblickende Gestalten auf und allen wurde klar, dass sie um Hilfe gerufen hatte.
Alice, Milano und Tamo standen vor ihr. Alle drei hatten die Kissenabdrücke noch im Gesicht kleben. Ihre Haare standen in alle Richtungen. Ihre Mienen zeigten, dass sie absolut keinen Bock darauf hatten, schon wieder hier zu sein.
»Ich habe geschlafen«, stellte Milano trocken fest.
»Sieht man«, erwiderte Skádi mit einem boshaften Grinsen.
Tamo drehte sich, sah durch die Reihen und stöhnte. »Warum konntet ihr euch nicht einfach von hier verpissen, wie wir es getan haben?«
»Glaub mir, die Frage stellen wir uns alle«, murrte Liam, der soeben Sam mit einem Zwinkern den Auslöser in die Hand gedrückt hatte.
»Ihr wollt also dieses Ding zünden, Skádi soll die Energie begrenzen und anschließend in die Erde jagen«, fasste Alice das Gehörte zusammen. Ihr Blick huschte dabei umher, wobei sie auf jedem kurz hängen blieb.
»So die Theorie«, bestätigte Sam, die stocksteif dastand. Den Zünder vorsichtig auf der ausgestreckten Hand liegend.
»Was sagst du dazu?« Milano starrte Alice an, die mit den Schultern zuckte.
»Ich sehe viele Möglichkeiten, wie der Scheiß enden kann. Nicht alle beinhalten unseren Tod.«
»Super, dann können wir ja anfangen«, sagte Skádi und klatschte in die Hände. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Sie wirkte so … aufgeregt.
»Und warum bin ich hier?« Tamo deutete um sich. »Ist doch eher so ein Zerstörerding. Dafür brauchst du mich nicht.«
Skádi presste die Lippen aufeinander und blähte die Nasenflügel. Ja, das war schon wieder mehr sie selbst. »Du musst dich in meine Energie einklinken. Für den Fall, ich ändere meine Meinung und versuche doch, alle in die Luft zu jagen.« Oder auch nicht.
Ein Teil der Gruppe verfiel in entsetztes Schweigen.
Norajas Flügel brachen aus ihrem Kreuz. »Ich verschwinde. Skádi fordert Hilfe. Ich bin raus.«
Jason lachte auf. »Neidisch?«, doch als er sie ansah, verstand er, dass es kein Scherz war. Noraja fühlte sich tatsächlich unwohl, und als sie sogar noch die Hände ausbreitete, kroch auch ihm die Angst tief ins Mark. Schweigend stellte er sich zu ihr und ließ sich in ihren Arm schließen.
»Sonst noch jemand?«
Antry und Dandelia traten zögernd auf sie zu. Iskaii beobachtete das Ganze mit verengten Augen. »Wie viele Menschen kannst du tragen?«
Noraja zuckte mit den Schultern. »Sechs. Ihr müsst euch nur selbst in den Armen halten.«
Antry zögerte nicht und schloss Dandelia in seine Arme. Iskaii zerrte Tork an seine Brust und Jason sah zu Freya. Die ließ auch keine Zeit verstreichen und reihte sich in die wohl seltsamste Umarmung ihres Lebens ein. Es war mehr als offensichtlich, dass keiner mehr Lust darauf hatte, länger als nötig hier zu sein.
»Kommst du wieder oder überlässt du mir die restliche Arbeit?«, fragte Milano gereizt.
Noraja zeigte ihm den Mittelfinger, umschloss dann Antry, Iskaii und Jason, während ihre Flügel sich aufspannten.
»Das seh ich dann als nein«, murrte Milano und ohne zu fragen, packte er die, die ihm am nächsten standen. Sam, Dean, Connor und Liam verschwanden im Nichts, genau in dem Moment, als Noraja mit einem Fauchen in die Höhe stieg.
                                                                            ---
Es dauerte dank Milano weniger als eine Minute, bis alle den Friedhof verlassen hatten und sich auf einem Hochhaus, Kilometer entfernt von dem Kaff des Grauens, wiederfanden. Der Großteil der Anwesenden war etwas grün um die Nase, was aber wohl das geringste Übel an diesem Tag war.
»Sicher, dass wir weit genug weg sind?«, fragte Dean und spähte über die Umgebung. Sie befanden sich am Stadtrand. Vor ihnen endloses Nichts, durchzogen mit Wäldern und Feldern. Nur in der Ferne konnte man die Umrisse der Hölle noch erahnen.
»Wenn Skádi es verbockt, ist es scheißegal, wie weit wir entfernt sind«, erklärte Milano und verschwand.
»Was ist das schlimmste Szenario, das eintreten könnte?«, fragte Grimm, der sich auf die Mauer des Gebäudes setzte, die Beine baumelnd über dem Abgrund unter sich.
»Sie könnte, anstatt die Energie der Bombe einzudämmen, sie verstärken und ihren Zerstörungsradius vervielfachen«, erklärte Alice, die Milano soeben auf dem Dach absetzte.
»Super, wir treten dem Ende entgegen und ich bin nüchtern«, murrte Connor und ließ sich frustriert neben Grimm fallen.
Stan folgte, während Sam immer noch unbewegt mit dem Zünder in der Hand dastand.
Ein dunkler Schatten am Himmel verdeckte für einen Moment die untergehende Sonne, bis Noraja zielsicher neben Sam landete. Sie entließ ihre Reisebegleitungen, die ebenfalls nicht ganz so frisch aussahen, und sah zu der Rothaarigen. »Alles klar, bei dir?«
Sam schüttelte den Kopf, ohne dabei den Zünder aus den Augen zu lassen. Noraja folgte ihrem Blick. »Ah. Soll ich?«
Sam nickte. »Gern. Ich bin nur ungern verantwortlich für das Ende der Menschheit.«
Noraja nahm ihn ihr schulterzuckend aus der Hand. »Ein Glück, dass mir die Menschheit am Arsch vorbeigeht.«
Sam entspannte sich sichtlich und ließ endlich ihre bis eben angespannten Schultern hängen.
»Wir gehen einen trinken, sobald das hier vorbei ist, und danach jage ich Schildmaid und Thorn«, fluchte Freya und suchte sich dabei ebenfalls einen Platz auf der Mauer.
Nach und nach sammelten sich alle am Rand des Gebäudes. Schweigen breitete sich aus und eine bleierne Schwere legte sich über die sonst so lautstarke Gruppe. Offensichtlich ging ihnen nun doch der Arsch auf Grundeis.
»Wer holt Skádi und Tamo?«, fragte Dean, der sich suchend umsah.
»Sie stehen zwischen uns und dem Kaff, das wir ausrotten wollen«, erklärte Milano.
Seine Augen leuchteten in einem hellen Blau, während um Alices Pupillen ein goldener Rand erschien.
»Bereit?«, fragte sie und sah durch die Runde.
»Nicht mehr in diesem Leben«, murrte Sam, die sich hinter Connor und neben Dean stellte.
Goldene Schlieren waberten um Alices Hände und binnen von Sekunden hatte sich eine schimmernde Schutzwand um die Anwesenden gezogen.
»Vorsichtsmaßnahme und nein, ich habe keine Ahnung, ob ich einem Atomsturm standhalten könnte.«
»Sehr beruhigend«, knurrte Stan, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
»Nun, war nett mit euch«, murmelte Connor. Scheinbar schloss auch er gerade mit seinem Leben ab.
»Wenigstens haben wir einen Platz in der ersten Reihe«, fügte Liam locker hinzu und gesellte sich zu seiner Schwester. »Fehlt nur noch Popcorn.«
»Noraja?« Alice sah über die Schulter. Ein Funkeln lag in ihren schwarzen Augen und ihre Flügel ruhten, angelegt an ihrem Rücken. Ihr Daumen strich über den roten Knopf, und als sie diesen kommentarlos drückte, huschte ein zufriedenes Lächeln über ihre Lippen.
Sie alle hielten die Luft an, als ein dunkles Grollen ertönte. Das Gebäude unter ihnen vibrierte, trotz der Entfernung, und gab ein leises Knistern von sich. Ein gleißendes Licht, so hell, dass sie gezwungen waren, ihre Blicke zu senken, vertrieb die einbrechende Nacht.
Die Zeit schien stillzustehen. Ebenso ihre Herzschläge und dann …
 
 

Irgendwo, fernabgelegen in den Tiefen Rumäniens
 
CCK-Schildmaid schreckte aus dem Schlaf. Ihr Puls raste. Ihre Haut war überzogen mit einem Schweißfilm. Sie blinzelte, versuchte, gegen das Rauschen in ihren Ohren anzukämpfen, und setzte sich auf. Ihr Schlafzimmer lag in friedlicher Dunkelheit. Nur der Mond warf einen schmalen Streifen weißes Licht auf den Steinboden. Die Vorhänge tanzten dank des seichten Windzugs, der durch das geöffnete Fenster drang.
Sie rieb sich übers Gesicht. Brauchte noch einen Moment, bis sich die Schrecken der Nacht vollständig aus ihrem Verstand verzogen hatten. Doch was, wenn …?
Sie schob die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Sie rannte durch das Zimmer, schnappte sich dabei einen Hoodie vom Stuhl und nur Sekunden später stand sie in einem von Finsternis verhangenen Flur.
»Fuck. Fuck. Fuck«, wisperte sie, während sie mit nackten Füßen über die Galerie stürmte, hektisch den Hoodie überzog und dabei fast über einen in schwarze Folie verschnürten Leichnam stolperte. Sie musste dringend ein ernstes Wort mit Lilileinn sprechen. Nicht dass sie was gegen deren neuen Dekorationsstil einzuwenden hatte, aber sie musste aufhören, diesen mitten in den Weg zu legen.
Sie sprang gerade noch rechtzeitig über das Hindernis, brachte die letzte Abzweigung hinter sich und steuerte auf die Tür zu, an der eine unübersehbare Morddrohung hing, für jeden, der es wagen sollte, diesen Raum ohne Erlaubnis zu betreten. Eine Warnung, die Schildmaid gekonnt ignorierte. Sie riss, ohne zu zögern, die Tür auf und im selben Augenblick erlosch der letzte Funke Hoffnung, dass sie tatsächlich nur einen Albtraum durchlebt hatte.
Jen stand mit bleichem Gesicht und vor Zorn funkelnden Augen in ihrem Wohnzimmer. »Diese Penner haben eine verfickte Atombombe gezündet.«
Schildmaid warf die Tür hinter sich zu, schnappte sich die Flasche Whiskey von der Anrichte und nickte. »So viel zum Thema: Traum.«
Jen riss ihr die Flasche aus der Hand und nahm einen großen Schluck. »Ich bringe sie um. Alle, wenn sie diese Scheiße überleben.«
Schildmaid ließ sich auf die einladende Couch fallen und starrte an die Decke. »Der Tod wäre eine zu einfache, schmerzlose Strafe. Vielleicht sollten wir sie in eine Gruppentherapie zwingen. Das könnte zumindest für uns lustig werden.« Schildmaid schmunzelte, wissend, dass sie scherzte. Sie würde sich eher von einem dieser Türme hier stürzen, als sich das anzutun, aber die Vorstellung, diese Kloppis in einen Stuhlkreis zu setzen, war amüsant.
»Was hast du gesagt?«
Schildmaid schüttelte den Kopf. »Dass der Tod zu nett wäre. Aber du hast recht, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Damit können wir sie nicht durchkommen lassen.«
Ein seltsames Glitzern spiegelte sich in Jens Augen, ihre Lippen formten sich zu einem dunklen Lächeln. »Oh, ich habe da schon eine Idee.«

11.png

Kapitel 18

»Ich schwöre euch, diese hirnverbrannten Weiber haben mich das letzte Mal gesehen«, verkündete Liam laut. »Die sollen ihre Leichen und ihren Bullshit künftig selbst in den Griff bekommen.« Er legte den Arm um Samanthas Schultern, bevor er hinzufügte: »Das Einzige, was ich ihnen und diesem Kaff zugutehalten kann, ist, dass sie uns einander vorgestellt haben.« Er zwinkerte der Rothaarigen zu.
Dean, der neben ihm stand, schenkte ihm ein müdes Lächeln, ehe ein grimmiger Ausdruck dieses ablöste. »Ja, schon klar, Romeo«, sagte er, griff nach Liams Handgelenk und zog den Arm von Samantha weg. »Du magst ganz cool drauf sein, aber Sam ist nun wirklich außerhalb deiner Liga.« Sein Ton triefte vor Beschützer, Neid, und dem schmalen Grat an Eifersucht, den man bei Leuten spürte, die schon zu lange auf Alarmbereitschaft liefen.
Samantha verdrehte demonstrativ die Augen. Sie griff nach ihrem Whiskey und steuerte auf Freya zu. Kaum das Samantha sich zu ihr gesellte, erkannte diese etwas in ihrer Miene, das sie zuvor nie bei ihr gesehen hatte. 
»Weißt du, ich hatte ganz kurz Angst«, gestand Freya leise.
»Dass ich deinem Bruder verfalle? Keine Sorge, er ist etwas zu jung für mich.« Samantha grinste und Freyas Blick glitt zum Tresen, wo Liam gerade zwei Shots abstellte – einer für Dean, einer für sich selbst. 
»Nein, deswegen nicht. Auf seinen Charme fallen nur Hohlbirnen rein. Du gehörst nachweislich nicht in diese Kategorie.« Sie verschränkte die Beine, die Hand auf dem Rücken des Stuhls. »Nein, ich hatte Angst, dass wir diesmal wirklich alle draufgehen.«
Samanthas Augenbraue zuckte, so minimal, dass nur ihr Gegenüber es bemerkte. »Die furchtlose Freya Shield und Angst?«
Freya lächelte, ein kurzes, hartes Lächeln. »Fick dich, Sam.« Es klang fast behutsam. »Wenn die Hölle, in Form von Skádi, persönlich um Hilfe ruft, dann ist der Weltuntergang nicht weit.«
»Schon klar«, sagte Samantha, aber die Stimme verlor an Leichtigkeit. Sie leerte ihr Whiskeyglas in einem Zug, als wollte sie das jähe Frösteln in ihrer Brust betäuben. »Mehr Sorge bereitet mir allerdings der Gefallen, den wir ihr nun schulden. Stan ...« Sie stockte, sah durch den Raum zu Stan, dem Mann mit den unterschiedlichen Augenfarben, der sich mit einem Bier in der Hand mit Jason unterhielt. »Stan schien darüber extrem besorgt.«
Freya lachte nicht. »Nehme ich ihm nicht übel.« Ihre Finger trommelten auf der Holzplatte. »Ein Gefallen kann bei Skádi von ›töte deine Kinder‹, bis hin zu ›ich schicke dich in eine andere Dimension, um mein Frühstück zu holen, aber du kommst in Einzelteilen zurück‹ alles heißen.« Ihre Stimme war plötzlich sehr sachlich, als rezitiere sie eine Liste von Möglichkeiten, jede schlimmer als die vorherige.
»Okay.« Samantha atmete aus, die Vokale lang gezogen wie ein Seufzer, den man nicht mehr zurückholen kann. 
»Vielleicht fordert sie den Gefallen erst in hundert Jahren. Dann sind wir zwei aus dem Schneider,« scherzte Freya, aber die Unsicherheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Beruhigender ist das auch nicht.« Samanthas Finger schlossen sich um das leere Whiskeyglas. »Irgendwie glaube ich, dass sie uns dafür aus dem Totenreich zurückholen würde.«
Freya zuckte die Schultern und ließ den Blick langsam durch die stickige Kneipe wandern. Rauch hing wie ein feuchter Vorhang in der Luft, das Neon über der Bar flimmerte und irgendwo rumpelte die Jukebox leise in einer Endlosschleife. »Sag mal«, begann sie, »wo ist eigentlich dein mysteriöser Freund vom Friedhof abgeblieben? Der mit dem Zünder.«
»Ty? Freund würde ich ihn nicht nennen. Er ist vermutlich wieder untergetaucht.« Sie schnaubte. »Besser so. Dean würde ihn entweder verhaften oder killen.«
Freya ließ ein spöttisches Lachen hören. »Das klingt diesmal aber nicht unbedingt nach Eifersucht unter notgeilen Typen.« Sie lehnte sich zurück.
»Nope.« Samantha sah über die Schulter zu Liam, dann zu Stan und ließ ihren Blick weiter zu Grimm gleiten, der in ein Gespräch mit Tork vertieft war. »Aber was die Kerle betrifft, bist du auch nicht gerade gesegnet, oder?«
Freya lächelt dünn. »Um solche Gespräche zu führen, bin ich eindeutig nicht betrunken genug.« Sie leerte das Glas mit einer einzigen Bewegung. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle und für einen Moment war da nur Wärme — kurz, fragil.
Bevor sie jedoch aufstehen konnte, um Nachschub zu holen, krachte eine volle Flasche auf den Tisch. Ein Tablett mit Shots folgte, die kleinen Gläser klirrten. »Bei diesem Problem kann ich behilflich sein«, verkündete Connor und kippte den ersten Shot. Ein Zweiter folgte.
Freya lehnte sich zu Samantha, ihre Stimme ein kleines, barsches Flüstern. »Ich helfe dir nicht, ihn später rauszutragen. Nur damit das klar ist.«
»Musst du nicht. Er hat ein beängstigend hohes Limit bei Alkohol.«
»Wenn das so ist.« Freya griff nach einem Shot, wartete, bis Samantha und Connor ebenfalls einen hatten, dann stießen sie an. »Darauf, dass wir die Scheiße überlebt haben und darauf, dass es unsere Autorinnen nicht werden.«
»Was läuft denn hier?« Jason stand plötzlich hinter ihnen, sein Ton halb neugierig, halb Vorwurf. Er griff an Freya vorbei und schnappte sich einen Shot. »Euch geht es aber verdammt gut.«
»Wir hatten die meiste Arbeit mit dem untoten Zeug in diesem Kaff.«
»Ihr? Die Polizeistation habe ich geräumt. Allein.« Iskaiis Stimme ertönte, rau wie Schmirgelpapier auf der anderen Tischseite. Er umklammert eine Whiskyflasche und nahm einen tiefen Schluck.
»Gänzlich der Wahrheit entspricht das nicht«, mischte sich Dandelia ein und Iskaiis Blick traf unvermittelt auf ihren, was ihm ein schiefes Lächeln auf die Mundwinkel trieb.
»Fein«, entgegnete er leise. »Du tötetest ein paar im Vorhof, ehe du mit deinem Freund verschwunden bist.«
»Du könntest auf gewisse Art echt heiß sein, wenn du nicht so eifersüchtig wärst«, warf Noraja ein und erntete einen Blick von Jason – kurz, funkelnd, gefährlich. Noraja schmunzelte und fuhr fort: »Seid ihr zwei überhaupt wirklich zusammen?«
Antry neben ihr knurrte leise wie ein Tier, Samantha spürte die Vibration in ihrem Nacken. 
»Wie auch immer«, sagte Noraja schließlich und strich die Frage mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite, »sie hat offenbar noch mit keinem von euch gevögelt, also ist die Spielwiese noch offen. Strengt euch an.« Sie grinste breit und griff nach einem Shot.
Liam trat plötzlich dicht an Samantha heran. Seine Stimme war eine rauchige Provokation: »Ich hab was von vögeln gehört.«
Freya schnippte mit den Fingern vor seiner Nase. »Klar«, regte sie sich auf, »wenn du sonst nichts mitbekommst, aber sobald du irgendetwas in dieser Art aufschnappst, ist dein Schwanz hart und du willig.«
Dean stellte ein neues Glas Whiskey vor Samantha ab und stützte sich auf ihre Rückenlehne. »Hier vögelt niemand. Ist das klar«, verkündete er.
Stan lachte – ein lautes, ungeniertes Geräusch, das sich mit der Musik mischte. »Und ich dachte, das hier sollte lustig werden«, brummte er.
Iskaii räusperte sich. »Ich mag die Kultur dieser Welt nicht verstehen, dennoch ist die Art, in welcher euereins über Frauen und ein derart intimes Thema spricht, nicht sehr respektvoll.«
Connor verdrehte die Augen, schnappte sich den nächsten Shot und nörgelte: »C’mon, kann jemand dem Dude den Stock aus’m Arsch ziehen?«
Iskaii sah Connor an und in seinem Blick lag die gefährliche Ruhe eines Meeres vor dem Sturm. »Sagt mir, ob dieser Saubeutel mehr Talent hat, denn das trinken von Alkohol und das ausspucken von sinnlosen Worten. Andernfalls werde ich ihn mit erwähntem Stock töten.«
»Jungs!«, fuhr Samantha wütend dazwischen und packte Connor am Ärmel, als wolle sie ihn physisch von der Idee abhalten, Iskaii zu provozieren. Er würde den Kürzeren ziehen, das war klar. »Könnten wir für einen beschissenen Abend die Feindseligkeiten und das Alpha-Gezicke einmal lassen? Nach dem ganzen Bockmist möchte ich mich einfach nur gepflegt betrinken und Spaß haben.«
»Spaß haben?«, wiederholte Liam mit einem süffisanten Lächeln.
»Dabei kann …«
»Dabei kann ich helfen«, fiel Connor ihm ins Wort. Seine Stimme hatte diesen gefährlich amüsierten Unterton, der jeden wissen ließ, dass er etwas im Sinn hatte. Ohne ein weiteres Wort kippte er zuerst einen Shot, dann sein Glas Whiskey hinterher, als wäre beides bloß Wasser. Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon.
Stan sah ihm nach, die Stirn skeptisch gerunzelt. »Was hat der denn jetzt vor? Besorgt er Stripperinnen?«
Jason lachte kurz auf, ein trockenes, raues Geräusch. »Bei dem, was der Typ schon intus hat, kommt er eher mit einem Twister-Spiel zurück und fordert, dass wir’s nackt spielen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, grinste schief – und bemerkte, wie sich ein paar Münder in der Runde ebenfalls zuckend verzogen.
»Dafür fehlt mir definitiv der Alkoholpegel«, murmelte Grimm. Er warf ein vibrierendes Handy auf den Tisch, als wäre es eine lästige Mücke. »Deins«, raunte er Freya zu. »Lag hinterm Tresen. Und hört nicht auf, zu nerven.«
Freya zog das Gerät heran. Ein paar Wischbewegungen später flackerte kaltes, blaues Licht über ihr Gesicht. Ihre Miene verfinsterte sich. »Schildmaid«, zischte sie. Nachrichten, Dutzende davon. Sie scrollte, las, schnaubte. »Die ist angepisst.« Dann hielt sie inne, las eine letzte Zeile und lachte kurz auf – ein Laut zwischen Hohn und Müdigkeit. »Sie hat mir eine Adresse geschickt. Natürlich. Fick dich, Schildmaid.«
Mit einem einzigen, entschlossenen Ruck ließ Freya das Handy auf den Boden fallen. Das Klacken auf den Holzplanken hallte kurz nach, dann trat sie zu – einmal, zweimal, immer wieder, bis Plastik und Glas in einem Splittermeer endeten.
»Brauchte sowieso ein neues«, meldete sie mit einem verdrehten Lächeln, griff nach einem Shot und stürzte ihn hinunter.
In diesem Moment tauchte Connor wieder auf.
Nicht mit Twister.
Nicht mit Frauen.
Sondern mit einer E-Gitarre in der Hand, deren schwarzer Lack das Licht der Neonröhren verschluckte. Er marschierte auf die kleine, staubige Bühne zu, stellte sich ans Mikro und zupfte prüfend an den Saiten.
»Was gibt das jetzt?«, fragte Stan misstrauisch und zog eine Augenbraue hoch. »Der strippt nicht, oder?«
Samantha grinste frech, ihre Augen funkelten. »Warum? Hast du Angst, er könnte nackt heißer aussehen als du?«
Stan erwiderte ihren Blick, ein kurzes Aufblitzen von Trotz und Spaß in seinen Augen. »Du hast mich noch nie nackt gesehen, Ms. Reed.«
»Ein Glück«, murmelte Liam.
»Und nein«, fuhr Stan ungerührt fort, Liams Bemerkung ignorierend, »ich weiß, was ich zu bieten habe. Deshalb hab ich nichts zu befürchten.«
»Alter, mir wird schlecht«, brummte Liam und Dean nickte zustimmend. Dean öffnete den Mund, um noch etwas nachzuschieben – doch dann zerschnitt ein harter Gitarrenriff die Luft.
Der Ton war roh, ungeschliffen, ehrlich.
Ein einziger Schlag, und der Raum hielt kurz die Luft an. Dann folgten weitere, ein rhythmisches Donnern, das sich tief in die Körper der Anwesenden grub. Connor stand in einem Kreis aus Licht und als er zu singen begann, vibrierte die Luft. Seine Stimme war rau, heiser, von Whiskey getränkt – und so voller Emotionen, dass selbst die abgestumpftesten Seelen in der Bar kurz vergaßen, wer sie waren.
»Das hätte ich ihm nicht gegeben«, gestand Noraja leise und wippte im Takt. Jason grinste, ergriff ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Nach und nach folgten die anderen. Gläser klirrten, Gelächter brandete auf, Füße stampften im Rhythmus.
Nur Freya blieb sitzen.
Iskaii trat an ihre Seite, stützte sich neben ihr auf den Tisch. Das Licht der Bühne malte scharfe Schatten in ihre Gesichter.
»Was machen wir wegen CCK und Thorn?«, fragte er leise.
Freya sah ihm in die Augen. Das Funkeln darin war kein bloßes Widerspiegeln des Lichts – es war kalt, präzise, gefährlich. »Wir ignorieren sie erst einmal«, sagte sie ruhig. »Sollen sie Nachrichten schicken, bis ihre Finger bluten. Wenn wir zu ihnen kommen, dann geben diesmal wir die Regeln vor.«
Ein Hauch von Genugtuung zog über Iskaiis Gesicht. Sein Grinsen war schmal und kalt. »Darauf kann ich trinken.«
»Tu das«, erwiderte Freya, und für einen kurzen Moment, während Connor auf der Bühne schrie und die Menge tobte, blitzte in ihren Augen etwas auf, das man fast für Freude hätte halten können.
Fast.

ENDE...

... vielleicht ... wer weiß das schon

bottom of page