
Nichts

Stille.
Nicht die Art von Stille, die beruhigt. Sondern jene, die schreit.
Ein Vakuum, das in meinen Ohren dröhnt.
Keine Autos. Keine Stimmen. Keine Schritte.
Kein Hund, der bellt. Kein Wind, der weht.
Nur ein alles verschlingendes Nichts.
Als hätte jemand das Leben ausgeknipst und mich vergessen.
Die Stadt liegt da wie eine erstarrte Leiche.
Fenster wie leere Augenhöhlen, Fassaden wie verwesende Haut.
Die Straßen sind grau, die Häuser grau, der Himmel ein endloses, bleiernes Gewicht über mir.
Manchmal bilde ich mir ein, dass sich etwas bewegt – ein Schatten, eine Silhouette hinter einem Fenster.
Doch wenn ich blinzle, ist alles wieder still.
Leer.
Tot.
​
Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin.
Tage? Wochen? Monate?
Zeit rinnt nicht mehr. Sie steht. Und ich stehe mit ihr.
Ich habe aufgehört, zu zählen.
Anfangs schrie ich nach anderen – mit einer Stimme, die nicht einmal mich selbst erreichte.
Ich brüllte, bis meine Kehle brannte, und lauschte auf Antwort.
Aber alles, was zurückkam, war noch tiefere Stille.
Ihr fragt, wie ich das aushalte? Warum ich noch Hoffnung habe?
Ich halte es nicht aus. Ich hoffe nicht. Ich… existiere.
Ein Überbleibsel, ein Irrtum, eine Narbe im Gewebe der Welt.
​
Ich mochte Einsamkeit einst.
Sie war mein Rückzugsort – still, friedlich, sicher.
Doch das hier ist kein Frieden.
Das hier ist die Perversion davon.
Stille, so laut, dass sie mein Denken zersetzt.
Leere, die in mich hineinkriecht, bis ich selbst hohl bin.
​
Am Anfang redete ich mit mir selbst, nur um eine Stimme zu hören.
Dann begann ich, mir Antworten einzubilden.
Ich führte Gespräche mit Menschen, die nie existiert haben – oder vielleicht existiert haben, aber nicht mehr hier sind.
Manchmal klingen sie vertraut.
Manchmal flüstern sie Dinge, die ich nie gedacht habe.
Ich habe aufgehört, ihnen zu widersprechen.
​
Irgendwann wollte ich einfach nicht mehr.
Ich dachte: Wenn ich schon allein bin, soll es wenigstens enden.
Doch es endete nicht.
Ich nahm Tabletten – Dutzende, vielleicht Hunderte.
Ich fühlte das Brennen in meiner Kehle, das langsame Taubwerden, das Kribbeln in den Fingern, das Kälte wurde.
Dann kam Dunkelheit.
Dann – Erwachen.
In derselben Straße. Im selben Körper.
Mit demselben Geschmack von Erbrochenem im Mund.
​
Ich schnitt mir die Adern auf, sah das Blut fließen, warm, lebendig, so schön, dass ich weinte.
Ich fiel ins Nichts – und erwachte wieder.
Ich sprang. Ich fühlte das Krachen, das Reißen.
Dann Dunkelheit.
Dann – Erwachen.
​
Immer wieder.
Wieder.
Und wieder.
​
Ich sterbe, doch ich gehe nicht fort.
Ich wache auf, gezeichnet von dem, was war.
Narben über Narben, Erinnerungen ins Fleisch gebrannt.
Ich bin mein eigener Leichnam, immer wieder auferstanden in einer Welt, die längst aufgehört hat, zu leben.
​
Ich bete immer noch.
Nicht, weil ich glaube – sondern weil ich hören will, ob jemand antwortet.
Nie kam ein Echo.
Vielleicht bin ich das Echo.
Vielleicht ist das hier die Ewigkeit:
Ein Ort, an dem man nicht sterben darf, weil selbst der Tod gegangen ist.
Vielleicht ist das, was übrig blieb, nur mein Kopf.
Und vielleicht bin ich das Letzte, was er denkt, bevor auch er
endlich
verstummt.
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