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Aura

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Die Dunkelheit hat mittlerweile jegliches Licht in sich aufgenommen und aus meiner Umgebung verbannt. Dies ist der Moment, in welchem die Finsternis der Nacht mit der Schwärze meiner Seele eins wird.
Es war nicht immer so. Meine Seele war hell, vibrierte in allen erdenklichen Farben und konnte jeden in ihren Bann ziehen. Sie strahlte, leuchtete, ebenso wie ich. Niedergeschlagenheit, Hass, Wut, solche Gefühle gab es in meiner Welt nicht.
Nicht, bis zu diesem einen Tag.
Ich war alleine unterwegs, sammelte Kräuter und Beeren und pflückte ein paar Blumen, um das Haus zu schmücken. Es war der Tag der Weihe. Meine jüngste Schwester hatte endlich das richtige Alter erreicht, um in den elitären Kreis unserer Macht aufgenommen zu werden. Alle waren da, niemand fehlte. Am Ende der Nacht wären wir alle vollwertige Anamras. Seelenleser.
Was das ist? Die Gabe, die Aura eines jeden zu sehen und tief in seine Seele zu blicken. Die Macht, das Böse aus den Seelen zu saugen und Frieden zu bringen. Trauer zu nehmen und Freude zu hinterlassen. Hass in Liebe und Güte zu verwandeln.
Als ich an jenem Tag zurückkehrte, schrie meine Seele bereits, noch bevor ich das kleine Haus inmitten des Waldes entdeckte. Pein, Schmerz, unsagbares Grauen erfüllte mich, ehe ich wusste, was geschehen war. Es konnte nur der blanke Horror sein, denn je näher ich dem Gebäude kam, desto bewusster wurde mir, dass ich die Auren meiner Familie nicht spürte.
Gehen wurde zu marschieren. Marschieren zu laufen. Und laufen zu rennen.
Ich keuchte, schwitzte und zitterte, als ich endlich mein Ziel erreichte. Die Tür stand weit offen. Fensterglas lag in Scherben und glitzerte im Licht der Sonne. Es wäre schön anzusehen, wie sich die zarten Lichtstrahlen in dem Glas verfingen und es schillern ließen, wären dort nicht diese roten Schlieren und Tropfen. 
Blut.

Binnen Sekunden stand ich im Haus und alles, was ich dann noch weiß ist, dass ich schrie und weinte. Beides gleichzeitig und vermutlich stundenlang, denn es war dunkel, als ich schließlich zu mir kam.
Sie waren Tod. Alle. Hingerichtet. Zerstückelt. Bestialisch ermordet.
Nun gibt es nur noch mich. Ich bin die Letzte meiner Art. Doch meine Seele leuchtet nicht mehr. Ihr Licht erstarb an jenem Tag. Ich fühle nichts und frage mich jeden Tag aufs Neue, was mich am Leben hält.
Aber irgendwas ist heute Nacht anders. Ein schwacher Impuls erhellt die Düsternis, doch er kommt nicht von der Natur. Es ist kein Blitz und kein Lichtstrahl, sondern etwas, dass sie lange Zeit nicht mehr wahrgenommen hat. Der spärliche Schein einer Aura.
Unmöglich.
Ich stapfe durch den Wald, bevor ich realisiere, dass meine Füße sich in Bewegung gesetzt haben. Der Impuls wird stärker, sein Leuchten intensiver. Und dann sehe ich ihn. Er steht nur da. So, als warte er auf mich.
Ein Lächeln teilt seine Lippen, kaum das ich näher komme. Eine Hand streckt sich mir entgegen und zögernd gehe ich weiter auf ihn zu.
Seine Seele vibriert, sie schreit, brüllt. Seine Aura ist dunkel. Schwarz wie Blut, sobald alles Licht erlöscht. 
Dann ergreife ich seine Hand und ein Pulsieren erfasst meinen Körper, schießt durch mich hindurch und lässt mich sehen, was er sieht. Bilder, die in seinem Kopf wohnen und Gedanken, die durch ihn hindurchbrausen prasseln auf mich ein.
Und zwischen dem Wirrwarr aus Blut, Tod, Hass, Gewalt, Bosheit und unfassbarer Trauer, erkenne ich, wer er ist. Oder besser, was er ist.

​Er ist die Aura aus all den Substanzen, die meine Familie und ich über die Jahre aufgenommen haben. In ihm bündeln sich all die Emotionen, die wir anderen nahmen, um ihnen Glück und Frieden zu schenken. Wir haben ihn erschaffen.
Ich merke, wie sich meine dunkle Seele nach seiner verzehrt. Spüre, dass meine Finsternis von seiner erfasst wird. Und dann weiß ich, dass ich ihm erliegen werde.
Unser Streben nach Frieden und Glück für die Welt, hat uns vergessen lassen, dass es ohne das Böse, dass Gute nicht geben kann. Ohne Nacht, kein Tag. Ohne Dunkelheit, kein Licht. Ohne Trauer, keine Freude.
Wir lagen falsch. All die Jahre. Es liegt nicht in unserer Macht, die Erde und alle darin erretten zu wollen. Ein jeder ist für sich selbst und sein Schicksal verantwortlich. Und so ergebe ich mich dem Meinen und ihm und gemeinsam lösen wir uns auf. Werden zu einem Nebel, verbreiten uns und ziehen aus, als eine Aura unter vielen.

Urheberrecht ©Jen Thorn

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