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Stille

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Der schwere Regen peitscht unaufhörlich auf mich nieder, als hätte der Himmel alle Pforten geöffnet, um den Zorn der Götter auf die Erde niederprasseln zu lassen. Die Dunkelheit ist so undurchdringlich, dass ich nicht einmal sagen kann, ob der Tag bereits in die Nacht übergegangen ist oder ob irgendwo hinter den dichten, pechschwarzen Wolken die Sonne auf ihre Befreiung wartet.
Menschen hasten an mir vorbei, in einem hektischen und unermüdlichen Versuch, sich vor der tosenden Nässe in Sicherheit zu bringen. Sie rempeln und schubsen mich an, verstecken sich unter ihren Schirmen und Kapuzen oder suchen verzweifelt nach etwas, das ihnen Schutz bietet. Ihre Blicke, die von Mitleid bis Verachtung reichen, durchbohren meine Seele.
Meine Kleidung ist innerhalb weniger Minuten durchnässt, meine Schuhe versinken in den immer tiefer werdenden Pfützen auf der Straße. Blitze zucken über den Himmel, stumme Boten des Unheils in dieser kalten, dunklen Umgebung.
Schließlich führt mich mein Weg in die Tiefe einer U-Bahn-Station. Ich bin nicht allein. Dicht an dicht drängen sich die Leute an den schmutzigen, mit Graffiti besprühten Wänden. Der beißende Geruch von Unrat steigt mir unangenehm in die Nase und ich frage mich, ob es eine gute Idee war, ausgerechnet hier Schutz zu suchen.
Niemand beachtet mich. Ich schaue in Gesichter, deren Münder stumme Worte formen, doch ihre Augen erzählen eine andere Wahrheit. Das Wasser bahnt sich in kleinen Rinnsalen seinen Weg die Treppe hinunter und sammelt sich um meine Knöchel. Es steigt unaufhörlich.
Ich sehe die Angst im Antlitz der unzähligen Fremden, doch ich höre ihre stummen Klagen nicht. Einige Menschen bahnen sich einen Weg zurück auf die Straße, starren schweigend in die Dunkelheit und dann wieder hinunter zur Bahnstation. Sie rufen etwas, aber ich höre nichts.
Immer mehr einst Schutzsuchende drängen nun nach oben, schieben und drücken unbarmherzig. Ich werde gegen die kalte, raue Wand gedrückt, mein Kopf schlägt hart gegen den Stein. Doch das Geräusch versinkt in der Stille. Ich stehe jetzt bis zu den Knien im Quell des Lebens.
Stumme Tränen mischen sich mit dem Regen, der aus meinen Haaren perlt. Leise Gebete werden gesprochen, während das Wasser bis zu meinen Hüften steigt. Aus dem kleinen Rinnsal ist eine reißende Bestie geworden, die unabwendbar zu einem alles verschlingenden Ungeheuer wächst. Es zupft an mir, versucht, mich in die Dunkelheit des Bahnschachtes zu zerren.
Ich kann die Schreie der Menschen um mich herum nicht hören, die allmählich lauter werden. Ich kann überhaupt nichts hören - weder den grollenden Donner, noch das ohrenbetäubende Rauschen des Wassers.
Schließlich breite ich meine Arme aus und gebe mich dem tobenden Monstrum hin. Es dauert nur Sekunden, bis es mich mit seiner eisigen Kälte umfängt. Mein lautloser Schrei wird von seiner Liebkosung erstickt. Die Stille wird unendlich und ewig, und ich verliere mich in ihr, während die Welt um mich herum in Dunkelheit und Verzweiflung versinkt.

Urheberrecht ©Jen Thorn

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